Interview

»Kontrollverlust, Selbstaufwertung und offener Antisemitismus«

Anti-Corona-Maßnahmen-Demonstration in Düsseldorf im Oktober 2020 Foto: imago images/Ralph Peters

Rund ein Drittel der Deutschen sind Umfragen zufolge Verschwörungsmythen zugeneigt. Die Sozialpsychologin Pia Lamberty untersucht, was Menschen dazu bewegt, solchen Erzählungen zu glauben. Im Interview spricht sie darüber, warum es bei Verschwörungsmythen nicht um harmlose Spinnereien geht, worin Gefahren liegen und wie der Glaube an Verschwörungerzählungen die eigene Identität beeinflusst.

Frau Lamberty, haben wir in Deutschland Verschwörungserzählungen bislang unterschätzt?
Solche Erzählungen wurden lange als »Spinnereien« abgetan oder als irrelevant eingestuft. Es fehlte Sensibilität dafür in der Gesellschaft. Jetzt zeigt sich, dass viele Menschen an eine Verschwörung hinter Corona glauben und ihre Überzeugungen in der Krise auch laut äußern. Das macht das Phänomen insgesamt wichtiger. Gesundheit ist kein rein privates Thema mehr. Denn der Verschwörungsglaube wirkt sich auf das Verhalten der Menschen aus: Sie sind weniger bereit, eine Maske zu tragen oder Abstandsregeln einzuhalten. Die Gesellschaft begegnet dem gerade mit einem großen Fragezeichen und weiß nicht, was sie tun soll.

Von wie vielen Menschen sprechen wir etwa?
Umfragen der vergangenen Monate legen nahe, dass zwischen 25 und 30 Prozent der Deutschen an eine Verschwörung hinter Corona glauben. Das passt zu bisherigen Werten von vor der Pandemie, wonach auch sonst etwa ein Drittel der Menschen in Deutschland zu Verschwörungserzählungen neigen. Die Spanne reicht dabei von Überzeugungen, dass Corona eine Biowaffe zur Reduzierung der Bevölkerung sei, über die Auffassung, das Virus sei durch den Mobilfunkstandard 5G verursacht.

Manche Mythen klingen absurd. Belächeln sollte man das trotzdem nicht, sagen Sie.
Ja, wer die Gefahren der Pandemie leugnet und dazu aufruft, keine Maske zu tragen, gefährdet andere. Wirklich gefährlich ist aber, dass über die entsprechenden Kanäle und bei Veranstaltungen oft menschenfeindliche Inhalte verbreitet, Hass geschürt und Wissenschaftler und Politiker als Feinde dargestellt werden. Was sich am Anfang wie ein diffuses Weltbild darstellt, entwickelt sich schnell zu offenem Antisemitismus.

Ein Virus wie Corona lässt sich wissenschaftlich untersuchen. Welche Funktion haben an dem Punkt Verschwörungserzählungen?
Gerade bei Krankheiten, die eine abstrakte Bedrohung darstellen, funktionieren Verschwörungsmythen sehr gut. Das Virus ist unsichtbar und daher schwer zu verstehen, wo eigentlich »der Feind« sitzt. Verschwörungserzählungen präsentieren demgegenüber oft einen konkreten Schuldigen und damit einen greifbaren Feind.

Hilft der Glaube an Verschwörung dabei, eine Krise zu bewältigen?
Kontrollverlust spielt eine Rolle. Menschen neigen dann eher dazu, an Verschwörung zu glauben - quasi als Bewältigungsstrategie. Die Frage ist: Tut es ihnen gut oder macht es alles viel schlimmer? Die Forschung dazu steht erst am Anfang, deutet aber darauf hin, dass Menschen sich nicht besser fühlen, wenn sie an eine Verschwörung glauben. Im Gegenteil, es kann sogar eine Negativ-Spirale bewirken: Menschen erleben einen Kontrollverlust, glauben an Verschwörung und das wiederum lässt sie weiteren Kontrollverlust erleben.

Wie beeinflusst dieses Denken die eigene Identität?
Gegen eine Pandemie zu kämpfen, ist wenig heroisch. Man sitzt viel zu Hause, trägt eine Maske. Wenn man aber überzeugt ist, gegen eine angebliche Verschwörung zu kämpfen, kann man sich selbst aufwerten. Man sieht sich als Widerstandskämpfer oder als Person, die über eine Art Geheimwissen verfügt. Andererseits kann Verschwörungsglaube auch zu Isolation führen, weil Freunde sich abwenden oder Probleme in der Partnerschaft entstehen.

Sie sprechen von Verschwörungsglaube. Gibt es einen Zusammenhang zu Religion?
Manche sehen es als eine Art Ersatzreligion. Das ist bisher aber kaum erforscht. Ich vermute, dass es sich um unabhängige Systeme handelt, denn Verschwörungsglaube findet sich sowohl bei religiösen Menschen als auch bei Atheisten. Interessant ist aber, dass etwa die in den USA entstandene Bewegung um QAnon als Kult mit fast sektenähnlichen Strukturen und einem Führer im Zentrum organisiert ist. Das gab es so vorher nicht.

Wenn etwa jeder Dritte solchen Mythen nicht abgeneigt ist, haben wir wahrscheinlich alle jemanden im Umfeld, der damit zumindest liebäugelt. Wie kann man damit umgehen?
Das ist oft ein langer und steiniger Weg. Wenn jemand wirklich in dieser Ideologie verhaftet ist, bringen Diskussionen nichts. Denn um sich wirklich mit allen Argumenten oder eher den Scheinargumenten auseinander zu setzen, muss man enorm viel wissen - und stößt dabei irgendwann an Grenzen. Wahrscheinlich fällt irgendwann der Satz »Das weiß ich nicht« - der im schlimmsten Fall die andere Person bestärkt. Man kann aber schauen, welche Funktion der Verschwörungsglaube für den anderen erfüllt, ob zum Beispiel Ängste dahinter stecken, oder sich an eine Sektenberatungsstelle wenden. Wichtig ist, Grenzen zu setzen. Das kann auch heißen, mit der Person nicht mehr über das Thema zu sprechen oder sogar den Kontakt abzubrechen.

Einspruch

98-mal Hoffnung

Melody Sucharewicz sieht die Hamas entschieden geschwächt und bangt mit ganz Israel um die Geiseln in Gaza

von Melody Sucharewicz  15.01.2025

Würdigung

Argentiniens Präsident Milei erhält »jüdischen Nobelpreis«

Der ultraliberale Staatschef gilt als enger Verbündeter Israels und hat großes Interesse am Judentum. Das Preisgeld in Höhe von einer Million Dollar will er für den Kampf gegen Antisemitismus spenden

von Denis Düttmann  14.01.2025

Berlin

Vereinigung fordert Ausschluss der AfD bei Holocaust-Gedenken

Die demokratische Einladungspraxis, alle im Parlament vertretenen Parteien einzubeziehen, sei für die NS-Opfer und ihre Nachkommen und für viele demokratische Bürger nicht mehr tragbar

 14.01.2025

New York

46 Prozent aller Erwachsenen auf der Welt haben antisemitische Ansichten

Die Anti-Defamation League hat 58.000 Menschen in 103 Ländern befragt

 14.01.2025

NRW

NRW-Leitlinien für zeitgemäßes Bild des Judentums in der Schule

Mit Büchern gegen Antisemitismus: NRW-Bildungsministerin Feller hat zwölf Leitlinien für die Darstellung des Judentums in der Schule vorgestellt. Denn Bildungsmedien seien ein Schlüssel zur Vermittlung von Werten

von Raphael Schlimbach  14.01.2025

Faktencheck

Hitler war kein Kommunist

AfD-Chefin Weidel bezeichnet den nationalsozialistischen Diktator als »Kommunisten«. Diese These wird von wissenschaftlicher Seite abgelehnt

 14.01.2025

Berlin

Wegen Gaza-Krieg: Syrer beschädigt erneut Gebäude im Regierungsviertel

Erst das Innenministerium, dann der Amtssitz des Bundeskanzlers: Zweimal binnen weniger Tage fasst die Polizei in Berlin einen Mann, der wegen des Gaza-Kriegs wütet

 14.01.2025

Studie

Frauen und jüdischer Widerstand bei Schulnamen unterrepräsentiert

Welche Persönlichkeiten prägen die Namen deutscher Schulen? Eine Studie zeigt: Pädagogen spielen eine große Rolle. Frauen und Juden eher weniger

 14.01.2025

Debatte

»Zur freien Rede gehört auch, die Argumente zu hören, die man für falsch hält«

In einem Meinungsstück in der »Welt« machte Elon Musk Wahlwerbung für die AfD. Jetzt meldet sich der Axel-Springer-Chef Mathias Döpfner zu Wort

von Anna Ringle  13.01.2025