Es gibt wenige Menschen, die in ihrer Wirkung derart überwältigen, dass das Gegenüber sie nur schwer mit einfachen und klaren Kategorien fassen kann. Helmut Schmidt war so ein Mensch. Er verkörperte einen Staatsmann, der keine Fahrt um eine enge Kurve scheute, und das nicht nur auf politischer Autobahn. Scharfe Worte waren seine Spezialität.
So war er insbesondere im letzten Jahrzehnt seines Lebens nicht nur der Altbundeskanzler, der als Privatier auf eine erfüllte politische Karriere zurückblickte, nein, er war der rauchende Altvordere, der bis in die letzten Monate seines Lebens aktiv an den politisch-moralischen Schrauben der Bundesrepublik drehen wollte.
In seiner Wirkung – vermeintlich resigniert in seiner Haltung – immer meinungssicher, kritisierte er unverblümt die Entscheidungen anderer und beschied deren Fähigkeiten auch mal vernichtende Urteile. Er war nicht von seinen harschen Urteilen abzubringen, auch wenn es manchmal an konkreten Vorschlägen haperte. Man muss wohl ein Kanzler gewesen sein, oder ein jahrhundertlanges Leben hinter sich gelassen haben, um heutzutage eine solche schonungslose Gradlinigkeit zu bewahren.
Und doch: Man wurde den Eindruck nicht los, dass Helmut Schmidt bis zuletzt zwar die Richtung und das Ziel kannte, aber die Wege dorthin nicht immer fand – so wie es auch andere nach seiner Auffassung nicht schafften. Diese seine Frequenzsuche, die einem oft eher wie eine Frequenzvorgabe vorkam, löste beim Publikum höchst unterschiedliche Reaktionen aus. Nicht wenige seiner Leser und Zuhörer liebten den mit seinen Menthol-Zigaretten aus der Zeit gefallenen Altkanzler für seine Direktheit. Bei anderen löste seine trotzige und arrogant anmutende Haltung eher Störfunk aus.
Zuwanderung Nicht selten stieß er die Menschen vor den Kopf. So wünschte er erst vor einigen Jahren Deutschland weniger Zuwanderung und reihte sich mit solchen Worten in die Gruppe anderer alter störrischer Männer aus der Stammkneipe nebenan ein. Doch auch hier wusste er, die Kurve zu kriegen, selbst wenn dies nicht immer gut ankam: Nicht die Ausländer waren die Schuldigen, sondern die Politiker, die mit ihrer Zuwanderungspolitik scheiterten. Ohnehin waren es selten die Menschen, die Gesellschaft, die vermeintlich Unbeteiligten, die seine Kritik traf. Vielleicht auch deshalb war er unter den Menschen sehr beliebt. Die Beliebtheit nahm er zur Kenntnis, rauchte seine Zigarette und bemerkte nebenbei, dass er von Meinungsumfragen nichts halte.
Und im nächsten Atemzug teilte er weiter seine Kritik aus. Er war Verfechter einer weichen Russlandpolitik, auch dann, als die Abkehr Putins von Menschenrechten erst bedenkliche, dann katastrophale Ausmaße annahm. Diese Meinung vertrat er nicht etwa, weil er Russland und Putin, den er erst vor Kurzem besuchte, so sehr mochte, sondern weil er dies für ein Gebot der Realpolitik hielt. Die Nähe zum östlichen Nachbarn war ein Mittel zum Zweck: Sicherung des Friedens. Naiv und falsch? Eher die Nachwirkung der Entscheidungen und Politiken, die er als westdeutscher Kanzler mitprägen und mittragen musste. In seinem Bestreben, Europas Frieden um jeden Preis zu bewahren, war etwas Einfaches, etwas Nostalgisches, aber auch etwas Visionäres.
Und das, obwohl er nie ein Visionär sein wollte. Ihm war die Einsicht wichtiger, dass man als (Außen-)Politiker eben nicht alles erreichen, nicht alles verändern könne. Visionen würden zu Illusionen und Illusionen zu Fehlern führen. Oder zu einer Krankheit, die eine ärztliche Intervention erfordert. Er wollte, dass stattdessen auf dem Fundament der Realität agiert wird. Um voranzukommen, wollte er vermeintlich Inakzeptables hinnehmen. Forderungen nach Menschenrechten und Demokratie im Gegenzug zur wirtschaftlich-politischen Nähe würden nicht nur im Falle Russlands zur ziemlichen Vereinsamung des Westens führen – eine bei Sozialdemokraten noch immer häufig verbreitete Ansicht.
Weltkrieg Dass dieser pragmatische Ansatz auch seiner Lebenserfahrung im Zweiten Weltkrieg geschuldet war, liegt nahe. Aber sein Leben war erfüllt von Gegensätzen und Widersprüchen, die ihn beschäftigten. Dass er einen jüdischen Großvater hatte, teilte er erst spät mit, und zunächst nur den ihm am nächsten stehenden Menschen. Und so lebte er einsam mit dem wohl größten Widerspruch seines Lebens: Helmut Schmidt, ein mit einem Eisernen Kreuz ausgezeichneter Wehrmachtssoldat, ein Offizier mit jüdischen Wurzeln in Hitlers Armee. Einen größeren Widerspruch kann die eigene zerrissene Identität nicht bieten.
Er bezeichnete sich selbst als einen Gegner des Nationalsozialismus. Viel mehr Belastbares als diese Aussage gibt es hierzu in seinem Leben nicht. Man wird wohl nie erfahren, inwieweit er sich damals (wie die überwältigende Mehrheit seiner Generation) mit dem Naziregime identifizierte, für das er sein Gewehr trug. Aber er vollzog nach dem Krieg eine Kehrtwende und trat der SPD bei, absolvierte eine steile Politikerkarriere. Der Rücktritt Willy Brandts ermöglichte ihm den Sprung ins Kanzler-
amt. Eine Kanzlerschaft, für die er keinen Wahlkampf führen musste. Eine Kanzlerschaft, die er jedoch in den nachfolgenden Jahren so ausfüllte, als wäre sie für ihn geschaffen.
Der damalige RAF-Terror prägte ihn als einen Kanzler, der nicht nachgab. Auch nicht den Spekulationen seiner politischen Gegner, die seiner Fraktion Nähe zum RAF-Lager nachsagten. Später zeigt er sich als ein Mensch, der an seinen Entscheidungen festhält, während aus dem Herzen Zweifel klopften. Vor einigen Jahren erkannte er eine Mitschuld am Tode Schleyers durch seine damals sture Haltung an. Trotzdem hätte er auch rückblickend wohl nicht anders gehandelt, sagte er.
Israel Er war konsequent – auch in seiner Widersprüchlichkeit. Für den jungen Staat Israel war Helmut Schmidt ein konsequent schwieriger Partner. Sein Wunsch nach Frieden in der Region war die treibende Kraft bei seiner frühen Kritik am Siedlungsbau. Aber auch seine Suche nach den im Gegensatz zu Israelis einfacheren Partnern war ein Motiv, als er sich für den Waffenhandel mit Saudi-Arabien aussprach. Konsequent war er auch im Umgang mit dem damaligen israelischen Premier Menachem Begin, der die diplomatische Nähe zur jungen Bundesrepublik schon früher ablehnte, in Schmidt nur einen treuen Wehrmachtssoldaten sah und ihn dies auch immer wieder wissen ließ.
Helmut Schmidt und Menachem Begin waren wie zwei Radfahrer auf einem Tandem, auf dem sie eigentlich nicht zusammen radeln wollten, die jedoch von der Geschichte unausweichlich zusammengebracht wurden. Dies führte zu einer der kühlsten Phasen der Beziehungen zwischen beiden Ländern und den beiden sturen Staatsmännern. Schmidt besuchte Israel erst spät: das erste Mal nach dem Ende von Begins Amtszeit. Schmidt schaffte es nie, eine Beziehung zu dem jungen Staat im Nahen Osten aufzubauen. Nur an der zerrütteten Beziehung zu einem ebenfalls störrischen Begin dürfte es nicht gelegen haben.
Schmidt bekräftigte immer wieder aufs Neue, dass der Schwerpunkt der deutschen politischen besonderen Verantwortung in Europa liege – nicht zuletzt wegen des Holocausts. Der Ansatzpunkt seiner Außenpolitik war die beschämende Tat des millionenfachen Völkermordes – nicht die Opfer. Das Projekt Europäische Gemeinschaft war nach seiner Auffassung die direkte Folge, das unmittelbare Heilmittel für das von Nazideutschland zerrissene Europa. In seinem Verständnis war das Zusammenwachsen der Nachbarstaaten hierzulande richtig, eine Einmischung in Angelegenheiten anderer Länder dagegen falsch und wenig zielführend. Die gemeinsamen Werte und Ziele in der EU, die Ideenschöpfung der gemeinsamen Währung waren für ihn die treibende Kraft zum Frieden.
Europa Er war ein echter Europäer, der aber auch hier realistisch blieb und Zweifel zuließ. Obwohl für ein Europa der Solidarität eintretend, gab er später zu, dass er über die Aufnahme Griechenlands in der EU zweifelte. Trotzdem gab er die europäische Idee nie auf. Bis zuletzt sah er jedoch die Herausforderungen der EU und des Euro nicht als gemeistert an und mahnte weitere Anstrengungen an.
Helmut Schmidt scheute sich nicht davor, sich seinen eigenen Widersprüchen zu stellen, diese zu erklären, manchmal etwas zurückzunehmen und gleichzeitig neu auszuteilen. Er war ein Mensch, der sich ausgerechnet durch seine Offenheit und seine Sturheit Respekt verschaffte. Seine Analysen waren manchmal ein Schwert.
Seine kritischen Worte forderten aber heraus. Er wollte herausfordern und reizen. Durch seine umstrittenen Positionen wurden viele aus ihrem politischen Schlaf gerissen. Man fühlte sich gezwungen, dagegen zu halten, sich über ihn auch zu ärgern. Man schaffte es deshalb nicht immer, ihn zu mögen, aber man konnte und sollte ihm dafür danken.
Am Dienstag ist Helmut Schmidt im Alter von 96 Jahren in Hamburg gestorben.
Der Autor ist Rechtsanwalt und war von 2012 bis 2015 im Bundesvorstand des Arbeitskreises jüdischer Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten.