Der Streit ist nicht geschlichtet, dennoch zeichnet sich ein Kompromiss ab. Als am Donnerstagvormittag der Deutsche Ethikrat in Berlin zum Thema »Beschneidung von minderjährigen Jungen aus religiösen Gründen« tagte, lieferten sich Kritiker wie Befürworter der Beschneidung im Ton höfliche, aber in der Sache umso erbittertere Wortgefechte.
Das erste von insgesamt fünf Impulsreferaten hielt Leo Latasch, ärztlicher Leiter des Rettungsdienstes der Stadt Frankfurt/Main und seit April einziges jüdisches Mitglied des Ethikrates. Latasch wies zunächst Vorwürfe zurück, bei der Beschneidung handle es sich um »sexuelle Gewalt«, wie es etwa im Offenen Brief von 700 Juristen, Ärzten und Psychologen in der FAZ hieß. Dies sei ungeheuerlich, so Latasch. Daraufhin erklärte der Mediziner, was bei einer Brit Mila eigentlich passiert. Eine Videoaufnahme, die er zur Illustration vorführte, erzielte allerdings nicht den gewünschten Effekt: Eine Frau aus dem Publikum wurde ohnmächtig – wenn auch womöglich demonstrativ.
Schmerz Selbstverständlich verfüge ein Neugeborenes über Schmerzempfinden, betonte Latasch und widersprach damit anderslautenden Behauptungen. Daher bekomme ein Säugling bei der Brit Mila einen Tropfen süßen Weins, da die darin enthaltene Glukose das Schmerzempfinden herabsetze. Aber auch andere Formen der örtlichen Betäubung seien akzeptabel: So etwa Analgetika-Zäpfchen oder eine bestimmte Salbe zur äußerlichen Anwendung. Eine örtliche Betäubung mittels Spritze (»penile block«) dürfe dagegen nur ein Arzt vornehmen, nicht jedoch ein Mohel.
Völlig absurd sei es, so Latasch weiter, die Brit Mila als »Genitalverstümmelung« zu bezeichnen. Die Funktionsfähigkeit des Organs bleibe vollständig erhalten. Lediglich die Schleimhautstruktur der Eichel werde unempfindlicher, wodurch weniger Viren und Keime eindringen könnten, allerdings auch die Erregungsschwelle erhöht werde.
Abschließend betonte Latasch noch einmal, dass ohne Brit Mila später auch keine Barmizwa möglich sei, eine Verschiebung bis zur Volljährigkeit daher für Juden ebensowenig infrage komme wie eine nur symbolische Brit Mila. »Ein bisschen beschnitten gibt es nicht«, so Latasch.
Politik Lataschs großer Gegenspieler war der Rechtsphilosoph Reinhard Merkel. Seiner Ansicht nach ist die Beschneidung von nicht einwilligungsfähigen Kindern nach positivem Recht eindeutig strafbar. Es sei »bizarr«, so Merkel, wenn Religionen das autonome Recht hätten, »in den Körper einer Person einzudringen«. Aus Gründen der »Rechtspolitik« wollte dann aber auch Merkel, wenn auch mit großem verfassungsrechtlichen Unbehagen, kein Verbot der religiösen Beschneidung fordern, weil die politischen Folgen verheerend wären. »Deutschland hat die singuläre Pflicht zur Rücksicht auf jüdische Belange«, betonte Merkel.
Die übrigen Referenten – der Ethiker Ilhan Ilkilic, der Theologe Peter Dabrock und der Staatsrechtler Wolfram Höfling – sprangen Latasch inhaltlich mehr oder weniger bei. Vor allem Dabrock forderte allerdings mehr Klarheit in der Frage des Schmerzempfindens und der Anästhesie. »Da sind die Religionen in der Bringschuld«, so Dabrock.
Zweifel In der anschließenden intensiven Debatte äußerten mehrere Ethikratsmitglieder Zweifel an einer zufriedenstellenden rechtlichen Regelung der Beschneidung. Wie soll man ein religiös begründetes Sonderrecht vermeiden? Wie bringt man das Recht auf religiöse Beschneidung mit der Medizinethik in Einklang? (»Körperliche Integrität ist für die Medizin nicht diskutabel«, bemerkte der Mediziner und Theologe Eckhard Nagel.) Diese und ähnliche Fragen wurden gestellt. Manche, etwa der Augsburger Weihbischof Anton Losinger, forderten auch mehr »Klarheit über die empirischen Grundlagen«, das heißt mehr Fakten über die körperlichen Auswirkungen der Beschneidung. »Mit dem hier Präsentierten bin ich nicht zufrieden«, so Losinger.
Kompromiss Ein Verbot der religiösen Beschneidung forderte jedoch keiner der Diskussionsteilnehmer. Am Ende schälte sich so etwas wie eine Kompromissposition heraus, die die Vorsitzende des Deutschen Ethikrats, die Medizinethikerin Christiane Woopen, folgendermaßen zusammenfasste: Eine gesetzliche Regelung sei denkbar, die die religiöse Beschneidung für Juden und Muslime unter den folgenden vier Voraussetzungen erlaube: Die Eltern müssten umfassend über mögliche Komplikationen aufgeklärt werden; beide Elternteile müssten einwilligen; es müsse eine wirksame örtliche Betäubung stattfinden; und die Beschneidung müsse nach medizinischen Standards durchgeführt werden.
Gleichzeitig, so Woopen, solle die Forschung zu den Vor- und Nachteilen der Beschneidung intensiviert und ein Runder Tisch mit Vertretern der jüdischen und der muslimischen Gemeinschaft sowie Ärzten und Juristen eingerichtet werden, der eine gemeinsame Leitlinie erarbeiten solle.
Mit einem solchen Kompromiss könne er leben, sagte Leo Latasch. Die Pflicht zur Schmerzreduktion – »Ich sage absichtlich nicht Schmerzfreiheit« – sei völlig akzeptabel. Auch wenn, so Latasch, manche orthodoxe Strömung im Judentum das womöglich anders sehe.
Der Ethikrat sprach am Nachmittag in nicht öffentlicher Sitzung über die Formulierung einer gemeinsamen Empfehlung, die so bald wie möglich veröffentlicht werden soll.