Am 27. Januar wird der internationale Holocaust-Gedenktag begangen. In der relativ kurzen Zeit seit seiner Einführung durch die Vereinten Nationen vor fünf Jahren hat sich das Datum in vielen Ländern der Welt zu einem Brennpunkt der Erinnerung an die sechs Millionen Opfer der vom »Dritten Reich« vorangetriebenen »Endlösung der Judenfrage« etabliert. In Deutschland spielt der Gedenktag ebenfalls eine wichtige Rolle.
Es lohnt sich also, aus diesem Anlass einen Blick auf den Umgang mit der Erinnerung der heute in Deutschland lebenden Juden zu werfen. Es ist kein Geheimnis, dass manch einer, auch innerhalb unserer Gemeinschaft, von zwei Gedenkkulturen spricht. Während die »Alteingesessenen« – selbst Überlebende oder deren Kinder und Enkel – den Holocaust aus der Perspektive der Opfer sähen, so die gängige Theorie, betrachte die Mehrheit der aus der ehemaligen UdSSR stammenden Zuwanderer diese Zeitspanne mit dem Blick des Siegers, dessen Land das Nazi-Reich niedergerungen habe. Dieser Ansatz ist falsch.
Gemeinschaft Selbstverständlich trifft es zu, dass die Einzelschicksale derjenigen Juden, die in den Reihen der Roten Armee kämpften und derjenigen, die unter deutsche Besatzung gerieten, ganz anderer Natur waren. Das hat ihr weiteres Leben unterschiedlich geprägt und oft auch die Nachgeborenen beeinflusst. Dennoch: Der jüdischen Gemeinschaft die Fähigkeit zu einem gemeinsamen Holocaust-Gedenken abzusprechen, ist absurd. Als Juden gehören wir einem Volk an, das sich durch eine 3.500 Jahre alte Geschichte und eine auch in der Diaspora gemeinsame Zivilisation verbunden fühlt.
Die kollektive Vergangenheit nicht nur abstrakt zu betrachten, sondern ebenfalls persönlich zu nehmen, gehört zum Kern unserer Identität. Nicht umsonst ist jeder Jude gehalten, am Sederabend sich so zu sehen, als sei er selbst aus Ägypten ausgezogen. Und bis heute geht uns die Zerstörung des Tempels in Jerusalem vor bald 2.000 Jahren nahe. Genauso gedenken Juden weltweit des Holocausts als Teil ihres kollektiven Schicksals, ob ihre Eltern und Großeltern nun aus Sosnowiec, Saloniki oder San’a, aus Budapest, Brüssel oder Bagdad stammen. Oder eben aus Lodz oder Leningrad, Chelm oder Chabarowsk.
prägend Ganz davon abgesehen war die Schoa für sowjetische Juden alles andere als abstrakt. Fast jeder, der unter deutsche Besatzung geriet, wurde ermordet. Wer bei Kriegsausbruch aus dem Grenzgebiet ins Innere der Sowjetunion flüchten konnte, war oft der einzige Überlebende seiner Familie. Jüdische Soldaten, die 1944 und 1945 mit der Front nach Westen marschierten, sahen die totale Vernichtung der jüdischen Welt Osteuropas. Sie waren dabei, als die Rote Armee am 27. Januar 1945 das Vernichtungslager Auschwitz befreite. Das hat sie und ihre Familien geprägt. In Sachen Schoa brauchen Juden aus der ehemaligen Sowjetunion deshalb sicherlich keinen Nachhilfeunterricht. Das Holocaust-Gedenken ist für uns alle ein verbindender, kein trennender Faktor.
Die Einteilung in »Kämpfer« und »Opfer« ist zudem aus umgekehrtem Blickwinkel ein Irrweg. Heldentum war kein Monopol der Uniformierten. Es gehörte nicht weniger Mut dazu, im Zwangsarbeitslager zu überleben, dem Mensch gewordenen Schicksal »arischer« Identität jeden einzelnen Tag abzutrotzen oder an einem Ghettoaufstand teilzunehmen, als feindliche Positionen an der Front zu erstürmen. Katastrophe und Heldentum waren zwei Seiten einer Medaille.
Freiheit Das darf uns nicht daran hindern, den Beitrag der jüdischen Soldaten zur Befreiung Europas vom Nationalsozialismus zu würdigen. Auf den Schlachtfeldern des Zeiten Weltkrieges waren Juden, an der Zahl der Bevölkerung gemessen, überrepräsentiert. Das galt gleichfalls für die Rote Armee, in deren Reihen eine halbe Million Juden kämpfte. Vierzig Prozent von ihnen sind im Krieg gefallen. Hier gilt ebenfalls: Wir alle sollten auf die insgesamt 1,5 Millionen jüdischen Soldaten des Zweiten Weltkrieges stolz sein und ihrer 250.000 Toten gedenken. Und diesen Stolz brauchen wir auch in Deutschland nicht zu verbergen. Schulter an Schulter mit Soldaten aus Dutzenden von Nationen und Volksgruppen haben sie für die Freiheit aller Menschen gekämpft. Dafür gebührt ihnen Dank. Uns gemeinsam zu ihnen zu bekennen, ist – ebenso wie die Erinnerung an die Schoa – Teil unserer Identität.
Der Autor ist Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland.