Debatte

Soll es in Deutschland eine Impfpflicht geben?

Tobias Tenenbaum,
Chefarzt der Kinder- und Jugendmedizin im Sana Klinikum Berlin-Lichtenberg
Die Covid-19-Pandemie wütet national wie international weiter. Die Intensivstationen werden voller oder sind sogar schon am Ende ihrer Kapazität. Die Mitarbeiter sind ausgepowert, befinden sich im Dauerbetrieb, der einzige Ausweg scheint die Kündigung. Der zunehmende Verlust von Pflegekräften, Ärztinnen und Ärzten verschlimmert die allgemeine Bettennot umso mehr.

In den Krankenhäusern liegen mehrheitlich ungeimpfte Patienten oder ältere, die keinen ausreichenden Impfschutz mehr haben. Sie erkranken nicht nur teils akut sehr schwer, sondern viele haben auch Langzeitfolgen. Sie besetzen die Plätze von Patienten, die keine Alternative, keine Impfung gegen ihre Erkrankung haben, wie zum Beispiel Krebs, Schlaganfall, Herzinfarkt. Das sind akute Krankheitsfälle, die auch behandelt werden müssen. Aber auch geplante Aufnahmen oder operative Eingriffe müssen teilweise wieder auf unbestimmte Zeit verschoben werden. Auch in diesen Fällen haben Patienten Beschwerden.

Sie haben ein Recht darauf, dass auch ihnen geholfen wird, sie eine Linderung ihres Leids erfahren. In Kenntnis dieser Problematik stellt sich die zentrale Frage der Verhältnismäßigkeit einer Impfpflicht gegen die SARS-CoV-2-Infektion. Die Impfung ist gegen schwere Verlaufsformen effektiv, schützt vor der Notwendigkeit, ins Krankenhaus zu müssen, und vor Todesfällen. Impfquote und Sterblichkeit hängen klar zusammen! Die Impfung ist zudem sehr verträglich, allgemeine Impfreaktionen sind im normalen Rahmen, schwere Nebenwirkungen selten. Dies konnte in den letzten zwölf Monaten im praktischen Leben beobachtet werden. Zwar gab es bei dem ein oder anderen Impfstoff selten schwere, nicht voraussehbare Impfkomplikationen.

Diese sind jedoch nun gut bekannt, Impfempfehlungen angepasst, Behandlungen etabliert worden. Von daher erscheint es nicht mehr länger hinnehmbar, dass insbesondere vulnerable Menschen, wie ältere oder solche mit Risikofaktoren, weiter gefährdet sind oder andere gefährden. Zudem halten die Krankenhäuser und Nicht-Covid-19-Patienten den Marathon des Durchhaltens und des Vertröstens auf bessere Zeiten nicht mehr lange durch. Man selbst möchte auch nicht vor der Situation stehen, dass ein Krankenhaus einen nicht mehr behandeln kann, weil kein Personal oder kein Bett mehr für einen da ist. Was ist daraus die Konsequenz? Man muss sich impfen lassen. Jeder! Vor allem als Erwachsener. Vor allem als älterer Mensch. Vor allem, wenn Risikofaktoren da sind. Kinder erkranken selten schwer an Covid-19 und nehmen daher die Ressource Krankenhaus seltener in Anspruch.

Von daher ist eine Verpflichtung zur Impfung in dieser Altersgruppe weniger entscheidend und trägt nicht zum Kollaps auf den Intensivstationen bei. Impfungen bei Kindern sind sicherlich auch ein Puzzleteil bei der Bewältigung der Pandemie. Aber die Impfung von Erwachsenen ist entscheidend! Wenn also die Freiwilligkeit und Solidarität in der Bevölkerung nicht flächendeckend gegeben sind, dann ist es unsere ethisch-moralische Pflicht und vom Grundgesetz gefordert, dass wir Menschen vor Erkrankung schützen. Und dann ist eben auch eine Impflicht im Zweifelsfall notwendig. Alle Appelle der Ärzte und Fachleute, Politiker und vieler Bürger haben nicht zu einer signifikanten Erhöhung der Impfzahlen geführt. Wir müssen uns aus der Pandemie herausimpfen. Notfalls auch mit Zwang.


Marguerite Marcus
Kinderärztin in Berlin
Auf eine Impfpflicht für die Covid-19-Impfung möchte ich als Demokratin im 21. Jahrhundert verzichten können und auf den gesunden Menschenverstand und die Solidarität der Gesellschaft vertrauen! Jede Impfempfehlung in der Humanmedizin beruht auf der Abwägung zwischen dem Nutzen, die Erkrankung bei sich und anderen zu vermeiden oder zumindest den Verlauf abzumildern, und dem Risiko einer unerwünschten Impfwirkung beim geimpften Individuum. Deshalb bin ich als Kinderärztin selbst zurückhaltend bei der Empfehlung der Covid-Impfung für fünf- bis zwölfjährige Kinder, bei denen der bisher beobachtete Corona-Erkrankungsverlauf das noch unbekannte Impfrisiko nur bei Kindern mit Vorerkrankungen rechtfertigt. Die Covid-19-Impfung mit allen zur Verfügung stehenden Impfstoffen sollte aber für jeden an der Gesellschaft teilhabenden Erwachsenen eine selbstverständliche Verpflichtung sein, um sich selbst, seine Familie, seinen Nachbarn, seine Arbeitskollegen und alle seine Mitbürger zu schützen!


Ricky Kaminski
Betriebsärztin in Bonn
Ich bin fest davon überzeugt: Die Corona-Impfpflicht muss kommen! Meines Erachtens hätte dies schon viel früher von den politischen Entscheidungsträgern in die Wege geleitet werden müssen. Ein großer Fehler war es zudem, die Impfpflicht zu Beginn der Pandemie so kategorisch ausgeschlossen zu haben. Stattdessen stehen wir wieder vor neuen Lockdowns, die wirtschaftlich, sozial und gesellschaftlich eine Katastrophe sind. Natürlich muss immer eine ganz genaue Abwägung zwischen Sicherheit auf der einen Seite und Freiheit auf der anderen Seite getroffen werden, aber wir sind mittlerweile an einem Punkt angelangt, an dem die Vorteile einer Impfpflicht die partiell möglichen Nachteile bei Weitem überwiegen. Die Intensivstationen laufen über, in mehreren Teilen Deutschlands droht eine Triage. Darunter leiden dann auch die vielen – geimpften! – Patienten, die wegen anderer Krankheiten als Corona behandelt werden müssen. Wir dürfen uns nicht von den Impfgegnern, die Risikopatienten sind, in Geiselhaft nehmen lassen. Ein Blick in die Medizingeschichte zeigt übrigens, wie wirkungsvoll eine Impfpflicht sein kann: Die Einführung der Masernimpfpflicht in Deutschland hat etwa bewirkt, dass auch sehr viele Eltern ihre Kinder impfen lassen, die der Impfung skeptisch gegenüberstehen – und dass diese Krankheit seitdem keine große Rolle mehr spielt.


Jolanda Schottenfeld-Naor
Internistin in Düsseldorf
Impfungen sind ein Segen und haben dazu geführt, dass Krankheiten wie Pocken oder Polio ausgerottet wurden. Ich habe als Ärztin zu den Ersten gehört, die im Pflegeheim und später in der Praxis geimpft haben. Und ich konnte viele meiner Patienten und Bekannten durch Gespräche und Aufklärung überzeugen. Dennoch bin ich gegen eine allgemeine Impfpflicht oder gar einen Impfzwang. Eine allgemeine Impfpflicht würde den Vertrauensverlust in die Politik durch diesen Wortbruch (Bundeskanzlerin Angela Merkel: »Es wird keine Impfpflicht geben.«) weiter verschärfen, und den Widerstand der Impfgegner mobilisieren. Das wäre Wasser auf die Mühlen der AfD. Zudem begünstigt eine Impfpflicht das Umgehen der Vorschriften durch Fälschungen von Impfausweisen. Wie sollte eine solche Impfpflicht auch sanktioniert werden? Etwa durch Zwang, Impfung mit Polizeieinsatz? Oder durch Bußgelder, die die Bürokratie weiter anfeuern und endlose juristische Auseinandersetzungen nach sich ziehen würden? Eine Impfpflicht würde zudem die jetzige Situation nicht entschärfen, da es viel zu lange braucht, bis eine allgemeine Impfpflicht durchgesetzt wird und überhaupt greift. In der jetzigen Krisensituation brauchen wir vor allem Vertrauen und Zusammenhalt, keinen Zwang. Wir müssen weiterhin an die Einsicht und die Vernunft appellieren und gleichzeitig die bestehenden Möglichkeiten ausschöpfen. In der aktuellen Krisensituation brauchen wir Kontaktbeschränkungen und die konsequente Einhaltung der 2G-plus-Regeln. Die Impfung soll auch als Anreiz für die Teilhabe am gesellschaftlichen und kulturellen Leben dienen. Israel hat es mit seinem »grünen Pass« und den zügigen Booster-Impfungen vorgemacht. Eine Impfpflicht war dort nicht notwendig. Deutschland sollte diesem Beispiel folgen!


Leo Latasch
Koordinator der Impfteams der Johanniter-Unfall-Hilfe in Frankfurt, Mitglied im Krisenstab von Agaplesion, ehemals Mitglied im Deutschen Ethikrat
Vorab: Ich bin ein Befürworter von Covid-19-Impfungen und vom Boostern. Ich habe Bedenken, ob die Impfung von Fünf- bis Elfjährigen notwendig ist. Ich respektiere, wenn ältere Menschen Angst oder Bedenken gegen die jetzigen Impfstoffe haben (und versuche, diese auszuräumen). Diskussionen mit Corona-Leugnern, »Querdenkern« oder generellen Impfgegnern halte ich für vergeudete Zeit. Die Impfungen gegen Covid-19 wirken, daran gibt es keinen Zweifel, auch wenn circa 20 Prozent der Erkrankten bereits geimpft waren.

Wer sich impfen lässt, minimiert in erster Linie das eigene Risiko, schwer an Covid-19 zu erkranken. Doch: In Krisen wird immer nach »Schuldigen« gesucht, und mit Beginn der vierten Welle waren plötzlich die Ungeimpften an allem schuld. Die Ungeimpften haben sicherlich ihren Anteil an der Heftigkeit der vierten Welle. Viel gravierender ist das andauernde Staatsversagen seit Beginn der Pandemie. Hinzu kommt der Mangel an Impfstoffen, Impfzentren, die schließen, weil sie angeblich nicht mehr gebraucht werden, laufend neue Verordnungen und der Höhepunkt: die Aufhebung der »epidemischen Lage von nationaler Tragweite«. Dafür haben wir eine bundesweite Sieben-Tage-Inzidenz bei den Corona-Neuinfektionen von rund 443 (Stand 1.12.), und wir haben uns – zumindest auf Bundesebene – der Möglichkeit eines generellen Lockdowns beraubt.

Seit Beginn der Pandemie hat die Bundesregierung nichts getan, um den Pflegeberuf attraktiver zu machen, das Pflegepersonal ist am Ende seiner Kräfte, und niemanden interessiert das. Das Rätsel der verschwundenen Intensivbetten sind nicht betrügerische Krankenhäuser, sondern nicht vorhandenes Pflegepersonal. Da es nur unliebsame Möglichkeiten gibt, die vierte Welle zu stoppen oder zumindest schnell zu reduzieren, versucht man nun, den noch Zögernden die »gesamte Schuld« am jetzigen Zustand zu geben. Anstatt über Sofortmaßnahmen zu entscheiden (das Wort beginnt mit »sofort«), wird die Impfpflicht ausgepackt, um den Druck zu erhöhen.

Mit Erlassen macht man aber die Menschen nicht intelligenter, man polarisiert die Gesellschaft nur noch mehr. Und: Eine mögliche Impfpflicht dürfte auch zum weiteren Erstarken der Rechtsradikalen und der Nazis führen. Schon heute verstecken sich Rechtsradikale hinter Corona-Leugnern und »Querdenkern« mit den übelsten antisemitischen Äußerungen, selbst die NS-Verbrechen werden noch als Argumentation gegen die Impfpflicht benutzt. Man muss die Leute überzeugen, sich impfen zu lassen, und manchmal sind es Kleinigkeiten wie die, dass ältere Menschen lieber zum Hausarzt wollen und nicht drei Stunden im Freien vor einer Impfstelle stehen. Wir sollten ernsthaft überlegen, warum es gerade im medizinischen Bereich (Kliniken, Alten- und Pflegezentren et cetera) immer noch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gibt, die zögern, sich impfen zu lassen. Ratschläge wie »Wir sollten vielleicht mit der Impfpflicht genau dort beginnen« könnten sich als Bumerang erweisen, wenn gerade die, die wir in der Aufklärung scheinbar überhaupt nicht erreicht haben, dem Beruf den Rücken kehren.

Was machen wir dann? Für die Gesellschaft wird als Lösung die 2G-Regel propagiert, die aber auch unter Expertinnen und Experten nicht unumstritten ist. »Die Geimpften haben das Gefühl, sie sind nicht mehr Teil der Pandemie und verhalten sich auch entsprechend risikobereit« (Professor Hendrik Streeck). Wirkliche Sicherheit brächte 1G – also alle zu testen, egal ob geimpft, ungeimpft oder genesen. Tatsache ist und bleibt aber: Je mehr Menschen geimpft werden, umso geringer werden die schweren Verläufe und damit die Anzahl der Behandlungsbedürftigen auf den Intensivstationen. Womit können wir die noch Unentschlossenen überzeugen?

Unsere Hoffnung sind die jetzt kommenden sogenannten Totimpfstoffe. Die Herstellung ist vergleichbar mit der von Grippeimpfstoff, sodass wir alle möglichen, auch langfristigen Nachteile kennen. Spätestens Januar 2022 sollte die Genehmigung für den Impfstoff der Firma Novavax in der BRD vorliegen, und alle Impfenden setzen große Hoffnung darauf. Und wie stoppen wir die vierte Welle? Leider primär nur mit massiven Kontaktbeschränkungen. Das hieße: sofortige Schließung aller (Weihnachts-)Märkte, leere Fußballstadien, Schließungen von Kaufhäusern – also fast wie ein Bundes-Lockdown. Wird die Politik diesen Mut aufbringen?

Zusammengestellt von Philipp Peyman Engel und Katrin Richter


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