Einzelfälle, überall Einzelfälle. Die »irrationale Tat eines Einzelnen«: So nannte Sachsen-Anhalts damaliger Innenminister Holger Stahlknecht den Anschlag eines rechtsextremen Terroristen auf die Synagoge in Halle am 9. Oktober 2019.
»Ein Werk irrer Einzelgänger«: So urteilte der damalige Bundespräsident Roman Herzog, als die Grabplatte von Heinz Galinski, dem ehemaligen Präsidenten des Zentralrats der Juden, am 19. Dezember 1998 von Unbekannten in die Luft gesprengt worden war.
terrorismus Ein wirrer Einzelgänger, so wird nun auch in Hamburg der Täter beschrieben, der am 5. Oktober vor der Synagoge im Stadtteil Eimsbüttel einen jüdischen Studenten mit Kippa angriff und schwer verletzte. Kein Terrorismus! Kein größerer politischer Zusammenhang! Eher: eine persönliche Geschichte.
»Es gibt keine Hinweise auf ein politisches Motiv«, so wiegelte die Sprecherin der Hamburger Staatsanwaltschaft ab. Die Ankläger beschreiben den Täter stattdessen als Opfer: von »wahnhaften Verfolgungsängsten«.
Nun muss man eines akzeptieren. Antisemitismus ist ein Wahn. Wenn er in diesem Fall tatsächlich derart pathologische Dimensionen erreicht haben sollte, dass der Täter nicht mehr Herr seiner Sinne war und sich nicht mehr steuern konnte, dann ist die sinnvolle Antwort im Rechtsstaat in der Tat: medizinische Behandlung. Nichts anderes hilft dann ja. Hinter Gittern natürlich – wo der Täter so lange eingesperrt bleibt, bis er keine Gefahr mehr darstellt.
wahn Aber klare Sprache bleibt trotzdem unverzichtbar. Der Täter in Hamburg lebte in der Vorstellung, dass ihm Juden nach dem Leben trachten. Egal, wie man diesen Wahn einstuft – etwa als krankhaft, mit der Folge, dass der Mann schuldunfähig ist –, es bleibt dabei, dass er deshalb einen beliebigen Juden attackieren wollte.
Diesen Antisemitismus verbal herunterzuspielen, zu übergehen, zu negieren – damit entpolitisiert die Justiz eine Gewalttat, die in einem viel größeren Zusammenhang steht.
Der Autor ist Jurist und Redakteur der »Süddeutschen Zeitung«.