Simona Reppenhagen geht nach Karlsruhe. »Artikel 3 des Grundgesetzes, der die Gleichbehandlung vorschreibt, wurde verletzt«, sagt die Berliner Rechtsanwältin und will Verfassungsbeschwerde gegen ein Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) einlegen. Das BSG hatte am Dienstag der vergangenen Woche entschieden, dass die sogenannten Ghetto-Renten für 22.000 noch lebende jüdische NS-Opfer drastisch beschränkt werden: Rückwirkende Zahlungen sollen in vielen Fällen nicht – wie geplant und von einem Gesetz intendiert – ab 1997, sondern erst ab 2005 erfolgen.
Neuanträge In der Pressemitteilung des BSG heißt es: »Für Nachzahlungen aufgrund von Überprüfungsbescheiden zu sog. Ghetto-Renten ehemaliger Zwangsarbeiter gelten keine Sonderregeln.« Im Jahr 2009 hatte dasselbe Gericht eine deutliche Verbesserung beschlossen: Bis dahin waren nämlich viele Anträge ehemaliger Ghetto-Arbeiter von der deutschen Rentenversicherung abgelehnt worden, weil bestimmte Charakteristika wie »Freiwilligkeit« fehlten. Das BSG aber stellte 2009 klar, dass es sehr wohl eine rentenpflichtige Beschäftigung war, wenn die Entlohnung, wie in einem NS-Ghetto üblich, nur aus einem Teller Suppe bestanden hatte.
Dieses BSG-Urteil war überfällig, denn viele ehemalige Ghetto-Arbeiter hatten aufgrund des »Gesetzes zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto« (ZRBG) aus dem Jahr 2002 Anträge gestellt. Dieses vom Bundestag einstimmig beschlossene Gesetz sieht vor, dass ab 1997 rückwirkende Zahlungen möglich sind. Jedoch wurden über 90 Prozent der Anträge abgelehnt – eben weil die Rentenkasse die Arbeit im Ghetto nicht als Erwerbsarbeit ansah.
voraussetzungen Nach dem BSG-Urteil 2009 haben nun viele Menschen Anträge erneut gestellt, die vorher – »unter falschen Voraussetzungen«, wie Simona Reppenhagen sagt – abgelehnt worden waren. Die Summen, um die es geht, bewegen sich meist um die 200 Euro pro Monat. Und die Gruppe derer, die das Geld erhalten, umfasst etwa 22.000 Menschen. Der CDU-Politiker Peter Weiß geht allerdings davon aus, dass bei einer bis 1997 rückwirkenden Zahlung geschätzte »Mehrkosten in einer Größenordnung knapp unterhalb einer Milliarde Euro dazukommen«.
Die Linke-Politikerin Ulla Jelpke bestreitet diese Zahlen. »Viel zu hoch«, heißt es in ihrem Büro. Und Simona Reppenhagen verweist darauf, wie viel die deutsche Rentenkasse schon gespart hat: »6.900 Menschen sind erbenlos gestorben, 21.000 sind nicht auffindbar. Wie viel wollen die denn noch sparen? Setzen die auf die biologische Lösung: bis alle verstorben sind?«
zynisch Den Verdacht einer »demografischen Lösung« hegt auch der Grünen-Politiker Volker Beck: »Das ist zynisch, unanständig und zutiefst beschämend.« Beck und seine Partei stimmen deswegen auch einem jüngst eingebrachten Antrag der Fraktion Die Linke zu, die »Renten für Leistungsberechtigte des Ghetto-Rentengesetzes ab dem Jahr 1997 nachträglich auszuzahlen«.
Das hat zwar das BSG gerade anders entschieden, doch eine solche politische Initiative könnte der restriktiven Auszahlungspraxis Grenzen setzen. »Leider hat das Gesetz nicht so gewirkt, wie wir alle es uns damals erhofft und gewünscht haben«, gab etwa der FDP-Abgeordnete Heinrich L. Kolb beim Bundestag zu Protokoll. Sein SPD-Kollege Anton Schaaf konstatiert, dass »nicht alle Betroffenen tatsächlich gleich behandelt« wurden. Der Antrag der Linken wurde Ende Januar vom Bundestag an den Ausschuss für Arbeit und Soziales weitergeleitet: Anfang März könnte er dann wieder dem Plenum vorliegen.
Diese politische Lösung verlangt auch die Jewish Claims Conference. »Es ist die letzte Möglichkeit, den hochbetagten Überlebenden ein Mindestmaß an Gerechtigkeit widerfahren zu lassen«, sagt Greg Schneider, Vizepräsident der Claims Conference.
Simona Reppenhagen hofft, dass der Antrag schnell durchkommt. Im Grunde ist das ZRBG von 2002 auf ihrer Seite. »Der Gesetzgeber hat eindeutig die Rückwirkung der Zahlungen gewollt«, sagt sie, doch jetzt gelte: »Antragsteller, deren Verfahren noch vier Wochen vor dem Urteil des BSG nicht mehr anhängig waren, erhielten keine Rückwirkung der Rente zum 1. Juli 1997, sondern nur die, deren Verfahren im Juni 2009 noch offen waren.«