Eine Dachterrasse in Jaffa im Frühjahr. Christine Kensche hat ihren
Tabakbeutel als Einladung auf den Tisch gelegt, viele Gespräche mit ihr
begannen genau so. »Nein, Schatz, also so eine hässliche Zigarette
kannst du wirklich nicht rauchen«, schüttelt sie tadelnd den Kopf ob
meines krummen Stengels, nimmt ihn mir weg und dreht eine neue
Zigarette für mich.
Währenddessen bleibt ihre eigene Kippe lässig im Mundwinkel hängen, unten auf der Straße machen streitende Taxifahrer Radau, von der Moschee nebenan ruft der Muezzin ohrenbetäubend laut zum Gebet. Jeder Widerspruch meinerseits ist ohnehin zwecklos.
Christine oder Tine, wie Freunde und Kollegen sind nannten, hat gut hierher gepasst, in dieses laute, verrückte, schnelle, Genuss liebende
Land voller Gegensätze. Vielleicht auch, weil ihr Gegensätze selbst nicht fremd waren. Übergriffig und liebenswert, fürsorglich mit Anderen und gelegentlich selbstvergessen, was die eigenen Bedürfnisse anging.
Ungewöhnlich aufmerksam und schlau, und trotzdem bescheiden. Äußerlich robust und zäh im Verfolgen ihrer Recherchen, im Inneren verletzlich und sensibel. Die Gleichzeitigkeit der Dinge aushalten zu können, und sie für Andere so trefflich zu beschreiben – diese Eigenschaft war es vielleicht, die Christine zu der begnadeten Reporterin machten, die sie war. Und zu einem sehr besonderen Menschen.
Eine Berufene
Seit 2020 berichtete Christine Kensche für die Welt aus Israel. Hebräisch hatte sie zuvor schon in Berlin gelernt, Arabisch nahm sie sich vor Ort
auch noch vor (»Wenn die Menschen mir etwas erzählen sollen, müssen
sie doch merken, dass ich mir auch Mühe gebe«.)
Dass sie für ihre Arbeit, oder vielleicht besser: ihre Berufung lebte, konnte jeder wissen, der sie traf. 1982 im nordrhein-westfälischen Mettmann geboren, suchte sie schnell ein eigenständiges Leben: Studium in Bonn, Auslandssemester in Rom, Texte für die Rheinische Post und den Bonner General-Anzeiger, ab 2010 Volontariat in Berlin bei der Axel-Springer-Akademie. Sie fiel rasch auf mit ihrem scharfen Blick für Details, aus deren Beobachtung sie oft die großen Dinge ableitete und den schönen Worten, die sie für die Gegensätze fand, die sie beobachtete.
Ein Interview mit Clan-Chef Issa Rammo in dessen Berliner Garten-Villa
bei Kaffee und Gebäck, für das er sie später bedrohen sollte. Ein Gespräch mit ihren Großeltern Sigrid und Fritz über das Geheimnis langwährender und immer noch frischer Liebe. Das Porträt eines schwulen Imams, der Flüchtlingen in Deutschland den Koran erklärt – und zwar eine Version, die Homosexualität als Teil von Vielfalt begrüßt. Und dann, kurz vor Ausbruch der Corona-Pandemie, die Entsendung als Korrespondentin nach Israel.
Nahost-Korrespondentin zu sein, war für Tine der vielleicht schönste Beruf der Welt. Laut und leise, alt und neu, Klagemauer und Techno, Terror und Liebe – das alles so intensiv, so dicht und unmittelbar. Tine
erzählte Geschichten von immenser politischer Tragweite, von großer
Freude und unermesslichem Leid und Schmerz.
Andererseits gibt es aber auch keinen unmöglicheren Beruf, als Nahost-
Korrespondentin zu sein. Denn im Prinzip ist eines klar, noch bevor man
einen einzigen schwarzen Buchstaben auf weißem Papier oder Screen
geschrieben hat: Man wird es niemanden Recht machen können. Zu einseitig! Zu oberflächlich! Zu nischig! Zu wenig Kontext!
Und überhaupt: Wer darf vor Ort als zuverlässige Quelle gelten, am Ende sind doch irgendwie alle betroffen und niemand objektiv? Christine war es nicht egal, was die Leser von ihren Texten hielten. In den Kommentarspalten diskutierte sie mit ihnen, versuchte Fehlannahmen zu korrigieren, zu überzeugen, einzuordnen. Gelegentlich sogar mit Erfolg.
Eine neue Zeitrechnung
Der 7. Oktober 2023 markierte eine Zäsur. Als die Terroristen der palästinensischen Terrororganisation Hamas aus Gaza brutal den Süden Israels überfielen und bestialisch mordeten, vergewaltigten und zerstörten. Mit diesen Gräueltaten begannen für Christine Kensche die intensivsten und schmerzhaftesten Monate ihres beruflichen Lebens.
Als eine der ersten Reporterinnen war Tine in dem von der Hamas verwüsteten Kibbuz Re‹im, um sich selbst und später ihren Lesern ein
Bild zu machen. Sie sprach mit Überlebenden, den traumatisierten Besuchern des Nova-Festivals, berichtete über die sexuelle Gewalt
gegen Frauen und die Qualen der Geisel-Angehörigen, die um das Leben ihrer nach Gaza verschleppten bangten.
Die Reporterin Christine Kensche recherchierte, dokumentierte und erklärte gefasst in die Kamera. Der empfindsame Mensch begriff die Verzweiflung der Menschen auf einer tiefen, intuitiven Ebene. Auch lange nach dem Andruck der Zeitungsseite oder der letzten TV-Schalte ließen die Schicksale und die Bilder sie nicht los.
Und natürlich war sie nicht blind für das Elend jenseits der Grenze: Mit der Hilfe von Stringern und Informanten berichtete sie auch über das Leid der Zivilbevölkerung in Gaza und die dramatischen Versorgungsengpässe. Sie ordnete ein, wie perfide die Hamas die Zivilbevölkerung instrumentalisierte.
Gleichzeitigkeit der Dinge
Während sich das Entsetzen in Deutschland über den Überfall auf Israel zu legen begann und junge, vermeintlich progressive Studenten an deutschen Universitäten und vor dem Auswärtigen Amt gemeinsam mit radikalen Terror-Unterstützern »Free Palestine from German guilt« skandierten, ging der Alltag für Tine in Israel weiter. Unermüdlich recherchierte sie, berichtete in einem international beachteten Stück über die Finanzströme der Hamas, erinnerte das deutsche Publikum daran, dass die Raketenangriffe aus dem Jemen und Libanon auf Israel anhielten und die israelischen Geiseln in den Tunneln der Hamas gefoltert wurden.
Auf Einsätze in einem Krisengebiet hatte Tine sich schon während ihres Volontariats vorbereitet. Die Bundeswehr bietet ein Krisentraining für Journalisten an, das seinen Teilnehmern die Basics erläutert: in geschlossenen Räumen immer den Fluchtweg identifizieren, risikoarmes Verhalten an Checkpoints, Vorbereitung auf den Ernstfall eines Beschusses.
Was zunächst wie ein Abenteuerausflug anmutete, fühlte sich für die Teilnehmer ziemlich schnell ernst an, als die Ausbilder auf bedrohlich realistische Art Entführungen und Befragungen simulierten. Einige brachen das Training eingeschüchtert ab. Nicht aber Tine, die die Nummer ungerührt durchzog, hinterher am Lagerfeuer Zigaretten für alle drehte und fortan nur noch »Commander Kensche« genannt wurde.
Von Hunden, Katzen und Menschen
Fernab von Kugelhagel und Frontverläufen brachte es Tine Glück, Zeit mit ihren vielen Freunden zu verbringen und mit ihrem notorisch ungehörigen Hund Pettel (»Himbeere«) am Strand spazieren zu gehen.
Dabei verlor sie schon mal ihre Kreditkarte oder andere Wertgegenstände, aber es fanden sich immer gute Seelen, die ihr aushalfen. Auch, weil Tine selbst immer an alle dachte: Kein Besuch in der Redaktion ohne Mitbringsel für die Sekretärinnen oder Glückwünsche an den Geburtstagen der Kollegen. Für die Kinder ihrer Freunde drehte sie sehr beliebte Videos von ihren beiden Katzen Milky und Bamba, die hervorragende und verrückte Statisten abgaben.
Und einmal, in einem Leben vor Israel, war sie sogar Adelshaus-
Berichterstatterin, gemeinsam mit der Autorin dieser Zeilen. Die Redaktion schickte uns 2013 nach Amsterdam, Königin Beatrix übergab
nach 33 Jahren Regentschaft den Thron an ihren Erstgeborenen. Millionen Holländer waren dafür angereist, die Stadt glich einem orangefarbenen Meer aus Betrunkenen.
»Wo aber soll hier bitteschön eine Geschichte sein?«, fragte ich sie verzweifelt. »Mach die Augen auf«, sagte Tine und fuhr begeistert fort: »Ein Muttersöhnchen muss auf der großen Bühne seinen Platz finden zwischen zwei Frauen, die ihn in den Schatten stellen – seine vom Volk verehrte Mutter und seine strahlende Ehefrau. Das ist doch so fürchterlich schön lebendig.«
Später verschwand sie in einem Coffee Shop um zu erfahren, welches
Gras sich zum Koningsdag denn am besten verkaufe. Sie kam strahlend
wieder heraus, auf dem Kopf ein Hut in Form eines gigantischen Cannabis-Blattes. »Die wollten mir unbedingt Hanf-Kekse schenken aus
Mitleid, weil wir in Deutschland keine Königin und nicht einmal einen
kleinen Prinzen haben - ich habe also wenigstens den Hut genommen.«
Christine hatte diese wunderbare Gabe, Menschen für sich einzunehmen
und ihr Vertrauen zu gewinnen. Fürchterlich schön lebendig war das. Sie
ist viel zu früh gegangen und fehlt – ihren Lesern, ihren Kollegen, aber
vor allem ihrer Familie und ihren Freunden. Möge ihr Andenken ein
Segen sein.
Silke Mülherr war eine Freundin von Christine und bis 2020 Ressortleiterin der WELT-Außenpolitik. Heute leitet sie als Co-
Geschäftsführerin die Alfred Landecker Foundation, die sich für
Demokratieförderung und Antisemitismusbekämpfung einsetzt.