Die jüdische Zuwanderung nach Deutschland aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion ist vorübergehend wegen der Corona-Pandemie gestoppt. Die deutschen Botschaften in Moskau und anderen Hauptstädten der früheren UdSSR-Staaten stellen seit einiger Zeit keine Einreisevisa mehr aus für Juden. Das berichtete der Berliner »Tagesspiegel« am Donnerstag. Das Auswärtige Amt bestätigte die restriktive Praxis.
»Der Zustand ist unerträglich und muss so schnell wie möglich beendet werden.«
Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland
Zwar seien vor Kurzem die Corona-bedingten Einreisebeschränkungen nach Deutschland für bestimmte Gruppen gelockert worden, darunter für Studierende, Familiennachzügler und sogenannte Spätaussiedler mit deutschen Vorfahren. Eine »Ausnahme vom Annahmestopp« für Visa-Anfragen könne momentan für jüdische Einwanderer aber »nicht gewährt werden«, heißt es im Terminvergabesystem des Auswärtigen Amtes für die Vertretung in Moskau. Wer es dennoch versuche, werde vorübergehend gesperrt, so der »Tagesspiegel«.
GEMEINDEN Seit 1990 sind mehr als 100.000 Juden nach Deutschland gekommen, die meisten davon aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion. Die Mitgliederzahl der jüdischen Gemeinden in Deutschland stieg dadurch beträchtlich an. Zwar ist die Zahl der jüdischen Einwanderer in den letzten Jahren deutlich zurückgegangen. Dennoch stellen immer noch hunderte Personen jedes Jahr einen Einreiseantrag. 2018 wurden dem Migrationsbericht der Bundesregierung zufolge 1.038 jüdische Einwanderer aus der ehemaligen UdSSR in Deutschland registriert.
Der Zentralrats der Juden in Deutschland hat die Bundesregierung aufgefordert, den Sachverhalt zu prüfen und zu korrigieren.
Voraussetzung für die dauerhafte Einreise ist die Staatsangehörigkeit eines Nachfolgestaates der Sowjetunion (mit Ausnahme der baltischen Staaten) und die jüdische Nationalität beziehungsweise jüdische Abstammung eines Eltern- oder Großelternteils. Viele Betroffene sitzen im wahrsten Sinne des Wortes auf gepackten Koffern und haben ihre Zelte in der alten Heimat schon abgebrochen, Wohnung und Arbeitsplatz bereits aufgegeben.
ZENTRALRAT Der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, hat die Bundesregierung bereits aufgefordert, »den Sachverhalt zu prüfen, um diesen unerträglichen Zustand so schnell wie möglich zu beenden« und den Betroffenen die baldige Einreise nach Deutschland zu genehmigen.
Auch der Europaabgeordnete von Bündnis 90/Die Grünen Sergey Lagodinsky kritisierte die Einstellung der Visumsvergabe scharf und forderte das Auswärtige Amt auf, die seinen Worten nach »nachlässige und diskriminierende Praxis« gegenüber jüdischen Einwanderern zu beenden.
»LIMBO« Lagodinsky, der im November 1993 selbst als sogenannter jüdischer Kontigentflüchtling mit seiner Familie von Russland nach Deutschland eingewandert war, sagte der Jüdischen Allgemeinen: »Ich weiß aus eigener Erfahrung, wie verunsichernd das Zeitfenster zwischen dem ›Zelte-Abbrechen‹ und der eigentlichen Ausreise ist. Ich wünsche keinem, auf längere Zeit in diesem Limbo stecken zu bleiben.«
In einem Brief haben sich nun 30 in Russland und Belarus lebende Juden an die Bundesregierung gewandt und die ablehnende Praxis kritisiert. Sie hätten bereits vor der Coronakrise eine Zusage von deutscher Seite erhalten, dass ihre Auswanderung in die Bundesrepublik möglich sei, und hätten sich deshalb in der alten Heimat bereits abgemeldet, was eine formelle Voraussetzung sei für die Einwanderung nach Deutschland.
Die medizinische Versorgung der Betroffenen ist stark eingeschränkt.
Damit sei es ihnen aber aktuell unmöglich, einen vorübergehenden Arbeitsplatz zu finden. Dasselbe gelte für Wohnungen und Schulplätze, berichtet der »Tagesspiegel«. Auch die medizinische Versorgung der Betroffenen sei so stark eingeschränkt.
PRÜFUNG Die Staatssekretärin im Auswärtigen Amt Antje Leendertse bestätigte die restriktive Praxis im Hinblick auf osteuropäische Juden. Die Bundesregierung prüfe aber, »die Einreisebeschränkungen für jüdische Zuwanderinnen und Zuwanderer baldmöglichst aufzuheben«, schrieb sie in einem Brief an die Bundestagsabgeordnete Filiz Polat.