Erneut macht die Haltung der Menschenrechtsorganisation Amnesty International (AI) zum Staat Israel Schlagzeilen. Im Fokus der Berichterstattung stehen dieses Mal Aussagen von Paul O’Brien, Direktor von AI in den Vereinigten Staaten. Bei einer Veranstaltung des Woman’s National Democratic Club (WNDC), der Frauen-Organisation der US-Demokraten, sagte er, dass AI zwar an das Selbstbestimmungsrecht der Völker glaube, aber gegen die Idee sei, »dass Israel als Staat für das jüdische Volk erhalten bleiben sollte«. Die Rede O’Briens, über die der »Jewish Insider« als erster berichtete, schlägt nun in der US-amerikanischen Öffentlichkeit hohe Wellen.
Erst im Februar löste AI mit seinem Bericht über Israel und dem damit verbundenen Vorwurf der Apartheid gegen den jüdischen Staat weltweit Empörung aus. In Deutschland wurde das über 200 Seiten starke Papier mit dem Titel »Israels Apartheid gegen Palästinenser: Grausames System der Unterdrückung und ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit« vielfach als einseitig und sachlich falsch bezeichnet. Auch die Bundesregierung kritisierte den Bericht.
EXISTENZRECHT AI behauptet darin, dass Israel seit seiner Gründung 1948 kontinuierlich und gezielt »ein institutionalisiertes Regime der Unterdrückung und Beherrschung der Palästinenser« geschaffen hat und die Palästinenser als »eine untergeordnete, nichtjüdische rassische Gruppe« betrachte. Damit mache sich Israel der Apartheid schuldig, also der systematischen Unterdrückung und Segregation einer Bevölkerungsgruppe durch eine andere. Trotz dieser harschen Kritik bestritt AI in seinem Bericht das Existenzrecht des israelischen Staates nicht. Nun stellt sich die Frage, ob der AI-Funktionär Peter O’Brien in seiner Rede vorm WNDC auch diese Linie überschritten hat.
Diejenigen seiner Aussagen, die der »Jewish Insider« überliefert, sind in dieser Hinsicht zumindest missverständlich. O’Brien sprach demnach davon, dass er glaube, dass sich die Mehrheit der US-amerikanischen Juden Israel nicht als einen jüdischen Staat wünsche, sondern stattdessen als einen »Safe Space« für Juden, einen Ort, »den das jüdische Volk ein Zuhause nennen kann« und der auf »jüdischen Grundprinzipien« beruhe. Diese Äußerungen weisen darauf hin, dass sich O’Brien – wie viele im progressiven Lager in den USA – für den Nahostkonflikt eine Einstaatenlösung wünscht, in der Juden nicht mehr unbedingt die Bevölkerungsmehrheit stellen und Israel aufhört, ein explizit jüdischer Staat zu sein.
Wie Israel unter diesen Bedingungen aber weiter existieren könnte und welche Konsequenzen die Umsetzung dieser Vorstellung für die Sicherheit der Juden in und außerhalb Israels hätte, darauf ging O’Brien nicht ein – auch nicht in seiner nachträglichen Klarstellung auf Twitter, in der er behauptete, seine Rede sei falsch wiedergegeben worden. Immerhin unterstrich er noch einmal, dass Amnesty »keine politische Sicht auf die Legitimität oder Existenz irgendeines Staates« habe. Verhindern konnte er aber nicht mehr, dass seine Aussagen auf energische Kritik stießen – sogar aus dem höchsten gesetzgebenden Organ der USA.
SCHICKSAL In dem gemeinsamen Statement, das alle 25 jüdischen Abgeordneten der Demokratischen Partei im Repräsentantenhaus unterzeichneten, war der Stein des Anstoßes allerdings nicht eine eventuelle Infragestellung des Existenzrechts Israels durch O’Brien. Vielmehr empörten sich die Abgeordneten über seinen »bevormundenden Versuch, im Namen der ganzen amerikanisch-jüdischen Gemeinschaft zu sprechen«.
Bei der Veranstaltung beim WNDC hatte eine Teilnehmerin O’Brien, der selbst kein Jude ist, eine Umfrage der Ruderman Family Foundation von 2020 entgegengehalten, der zufolge sich 80 Prozent der US-amerikanischen Juden als »pro-israelisch« verstehen und sich mit dem jüdischen Staat emotional stark verbunden fühlen. O’Brien widersprach: »Ich glaube eigentlich nicht, dass das wahr ist.« Und erklärte, was sich die Juden in den USA seiner Meinung nach wirklich wünschten: einen Safe Space statt eines jüdischen Staates.
Das ließen die jüdischen Mitglieder des Repräsentantenhauses so nicht stehen. Über O’Brien schrieben sie: »Er hat seinen Namen der Liste derjenigen hinzugefügt, die über Jahrhunderte versucht haben, den eigenständigen Willen des jüdischen Volkes zu leugnen und zu usurpieren.« Gemeinsam verurteile man diesen Versuch, »dem jüdischen Volk die Kontrolle über sein eigenes Schicksal abzusprechen«.