Impressionen

»Kein einfacher Termin«

Ein Wort macht die Runde. Es hängt an diesem 20. August, der ein »historischer Tag« werden soll, über der gesamten KZ-Gedenkstätte Dachau, und wer sich ganz unauffällig dunkel gekleideten Herren und Damen nähert, die zu einer schnellen letzten Besprechung beieinander stehen, notierend, telefonierend, dann fliegt es einem irgendwann entgegen, dieses Wort: »Kanzlerin«.

Was in seiner Ausführlichkeit bedeutet, dass am frühen Abend, um 18.45 Uhr, die Bundeskanzlerin Angela Merkel kommen wird, dass bis dahin noch einiges zu tun bleibt und dass so etwas nicht alle Tage passiert. Im Gegenteil. Noch nie hat ein deutscher Bundeskanzler die KZ-Gedenkstätte in Dachau besucht. Angela Merkel macht einen Anfang, macht den Tag »historisch«.

appellplatz Um und auf dem einstigen Appellplatz des ehemaligen Konzentrationslagers nahe München herrscht freudige Erregung. Man muss das so sagen. Man darf das so sagen. Über dem Platz, auf dem immer, sogar jetzt im Sommer, ein scharfer Wind weht, fährt zwischen die tiefhängenden Wolken die Sonne und schickt ein paar Strahlen. Kameramänner schauen dankbar nach oben.

Der Wind kippt die aufgestellten Schilder, die die Leute von der Presse auf ihre Plätze weisen sollen, nach vorne auf den sandigen Boden, aber die Sonne bleibt. Zwölf Stühle stehen verloren hinter Abgrenzungen aus locker gespannten, samtroten Kordeln. Das wirkt fast elegant, auf jeden Fall in der Kombination mit den umliegenden Gebäuden mehr als skurril.

Vor den Stühlen steht das Rednerpult für die Kanzlerin. Sie wird von dort aus die kleine Absenkung hinunter gehen, am Fuß des imposanten Internationalen Mahnmals einen Kranz aus vielen gelben und roten Blumen niederlegen. Der steht schon bereit. »Die Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland« steht auf der Schleife.

medien Einer ist schon lange da, schon Stunden. Max Mannheimer. Er ist nicht zu bremsen, umso weniger, seit er wieder mal einen Coup gelandet hat und weil er sich darüber freut wie ein kleines Kind. 2010 hat er Horst Köhler, den damaligen Bundespräsidenten, nach Dachau geholt, jetzt die Kanzlerin. »Dabei bin ich doch Sozialdemokrat, und darauf hat man mich auch schon recht deutlich hingewiesen.« Egal. »Frau Merkels Haltung gegenüber Antisemitismus und Nazigewalt imponiert mir.«

Max Mannheimer ist nicht nur schon seit Stunden da, er gibt auch reihenweise Interviews. Gerade war CNN bei ihm. Weit über 100 Journalisten und Kameraleute hat das Ereignis angelockt. Sie sammeln sich jetzt im Besucherzentrum. Man hört Englisch, Französisch, Russisch, Niederländisch, natürlich Deutsch. Die Karmeliterschwester Elija (»die gehört schon fast zur Familie«) schiebt Max Mannheimer in seinem Rollstuhl für die Kameras in Position und macht sich Sorgen.

Mannheimer ist 93 Jahre alt, Vizepräsident des Internationalen Dachau-Komitees, Präsident der Lagergemeinschaft Dachau und einer, der nicht genug davon kriegen kann, befragt zu werden. »Natürlich weiß ich, dass Wahlkampf ist. Aber dieser Besuch hier wird der Kanzlerin keine Stimmen zusätzlich bringen. Das kann nicht Sinn der Sache sein. Und außerdem: Zuerst kommt sie zu uns, und erst danach geht sie ins Bierzelt, um ihre Wahlkampfrede zu halten. Na also!«

zeitzeugen Die Zeitzeugen, die Dachau überlebt haben, treffen leise ein. Neun könnten es werden. Man erkennt sie an kleinen Wimpeln am Revers, denen von »damals« nachempfunden. Sie haben ihre Familien mitgebracht, begrüßen sich freudig gerührt und haben dann viel zu erzählen. Erinnerungen kommen hoch. Und welche Bedeutung hat es nun, dass die deutsche Kanzlerin kommt? Abba Naor, der aus Israel angereist ist, weist auf die wichtige Rolle Deutschlands innerhalb Europas hin.

»Da könnte und sollte das Eindruck machen.« Jean Samuel, heute in Paris zu Hause, kommentiert den Zeitpunkt von Frau Merkels Auftritt mit: »La politique c’est la politique.« Dann setzt sich der Trupp in Bewegung. Noch einmal muss man seine Papiere und Ausweise vorzeigen. Ein älterer Herr wird nach seiner Einladung gefragt, was dieser mit »Damals habe ich auch keine gebraucht« quittiert. Verlegene Lacher um ihn herum, ein hochroter Kopf bei dem eifrigen jungen Kontrolleur. Derselbe ältere Herr erzählt später, dass er manchmal darüber nachdenke, ob es nicht besser gewesen wäre, er wäre vergast worden. »Rein und weg. Stattdessen lebe ich mein ganzes Leben lang mit diesen Erinnerungen.«

Der Trupp ist auf dem weiten Appellplatz angekommen. Die Überlebenden dürfen Platz nehmen. Dieser Abend soll ihnen gehören. »Das Signal des Respekts für die ehemaligen Häftlinge, das Frau Merkel damit setzt, ist für uns Überlebende sehr wichtig«, hat Max Mannheimer nach der Zusage der Kanzlerin gesagt. Er wird in seinem Rollstuhl zur Stuhlreihe geschoben. Auch Charlotte Knobloch, Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, ist da.

hubschrauber Dann plötzlich knattert es in der Luft, und jeder weiß, die Kanzlerin naht. Irgendwo landet ihr Hubschrauber. Sie trägt einen dunkelblauen Blazer, dazu die passende Hose, eine dunkelbraune Perlenkette. Das darf interessieren, wenn es um einen Abend der Eindrücke geht.

Um den Kranz positionieren sich junge Leute, Paul, Sebastian, Nina und Luise. Angela Merkel geht zu den Überlebenden und begrüßt sie. Jeden für sich. Dann reiht sie sich ein ins Protokoll. Der bayerische Staatsminister Ludwig Spaenle begrüßt die Kanzlerin im Namen der Staatsregierung und wertet ihren »Entschluss, hierher zu kommen«, als ein »ganz besonderes Zeichen«, als einen »historischen Schritt«.

Karl Freller, Direktor der Stiftung Bayerischer Gedenkstätten, Trägergesellschaft der Gedenkstätten Dachau und Flossenbürg, sieht Merkels Besuch auch als Wertschätzung »unserer Erinnerungsarbeit«. Er weist darauf hin, dass Rechtsextremisten bis heute nicht vor Verbrechen und Morden zurückschrecken: »Zwölf Kilometer von hier entfernt läuft der NSU-Prozess.« Angela Merkel setze mit ihrem Besuch ein großes Zeichen. »Kein Kanzler hat bisher den Weg hierher gefunden. Sie schon!«

»Keinen einfachen Termin« hatte die Kanzlerin im Vorfeld den Besuch der Gedenkstätte genannt. Sie war von Max Mannheimers Einladung »sehr berührt«, nahm sie »sehr, sehr gerne an«. Bei der Rede am Dienstagabend dann spürt man ihr dringliches Bemühen, die Überlebenden und deren Biografien in den Mittelpunkt zu stellen. »Für mich ist es ein sehr bewegender Moment, mit Ihnen an diesem Ort zusammenzutreffen.«

Die Zahlen und Fakten über diesen Ort sind schnell genannt: Das KZ Dachau bestand über zwölf Jahre, es war das erste Konzentrationslager unter Hitler, und jenes, das als letztes befreit wurde. Es gab das Modell für alle anderen KZs ab, 200.000 Menschen waren hier inhaftiert, über 40.000 wurden hier ermordet.

rundgang Vor Merkel sitzen die, die irgendwie davongekommen sind. »Ein solcher tiefer Schmerz heilt ein Leben lang nicht«, sagt einer, und: »Jeder hatte ganz selbstverständlich eine persönliche Lebensgeschichte, die grausam durchbrochen wurde.« Max Mannheimer überreicht der Bundeskanzlerin, jetzt doch ein wenig aufgeregt, seine beiden Biografien, Gabriele Hammermann, die Gedenkstättenleiterin, betont noch einmal die »außerordentliche Ehre« des hohen Besuchs und entspricht dem »Anliegen« der Kanzlerin, in kleinerem Kreis mit den Überlebenden ein paar Worte zu wechseln und zusammen mit ihnen durchs Museum zu gehen.

Pieter Dietz de Loos, Präsident des Internationalen Häftlingskomitees (CID), dem zunächst keine Zeit für ein paar Worte gewährt worden war – »Ich habe das mit Verwunderung zur Kenntnis genommen« –, wendet sich mit dankenden Sätzen (doch leider ohne Mikrofon) an die Kanzlerin. Das CID, das sich bereits unter de Loos’ Vater im Jahr 1945 gegründet hatte, kann man als Initiator der Dachauer Gedenkstätte bezeichnen.

bierzelt Angela Merkel macht sich auf den Weg zum nächsten Termin, erwidert noch das Kompliment eines Dachau-Überlebenden, dass sie keine Spur älter werde, mit »Für eine Weile mag das zutreffen, aber dann ...«, erkundigt sich nach den Zukunftsplänen der ganz Jungen, die als Freiwillige bei der Gedenkfeier mitgeholfen haben, sagt »Na dann, alles Gute«, und ist weg in Richtung Dachauer Volksfestdienstag im Bierzelt. Dort erwartet sie Gerda Hasselfeldt, Vorsitzende der CSU-Landesgruppe, die übrigens auch dazu beigetragen hat, dass die Bundekanzlerin nach Dachau gekommen ist. Bei Bier und Blasmusik geht es nun ohne Frage um Wahlkampf. Aber natürlich wird die Vollblutpolitikerin Merkel vor dem Bierzeltpublikum ihren Besuch in der KZ-Gedenkstätte erwähnen: »Einen größeren Kontrast kann es kaum geben.« Da dürfte ihr niermand widersprechen.

Hintergrund
An dem Termin des Besuchs der Kanzlerin gab es Kritik, da Merkel unmittelbar im Anschluss eine Rede bei einer CSU-Wahlkampfkundgebung auf dem Volksfestplatz in Dachau hielt. Grünen-Fraktionschefin Renate Künast nannte dies eine »geschmacklose und unmögliche Kombination«. Anders der Präsident des Zentralrats, Dieter Graumann: »Mit Frau Merkel besucht immerhin erstmals ein deutscher Kanzler die KZ-Gedenkstätte in Dachau. Was ihren anschließenden Auftritt in einem CSU-Bierzelt angeht – ich bin auch in diesem Fall dagegen, dass wir uns jetzt in eine Meckerecke stellen.« Denn wenn die Kanzlerin nur den Wahlkampfauftritt in Dachau wahrgenommen hätte, hätte man sie wiederum dafür kritisieren können, dass sie nicht die KZ-Gedenkstätte besucht habe, so Graumann. »Ich werde auf jeden Fall der letzte Mensch im Land sein, der einen Besuch der Kanzlerin in der KZ-Gedenkstätte in Dachau kritisiert.«

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