Es würde auch diesmal keine einfache Reise werden, so viel dürfte Außenministerin Annalena Baerbock bereits vorher bewusst gewesen sein. Bei ihrem letzten Besuch in Warschau, der einer ihrer ersten Auftritte als Deutschlands neue Chefdiplomatin war, überraschte sie ihr polnischer Amtskollege Zbigniew Rau während einer Pressekonferenz mit einem 20 Minuten langen Monolog samt diverser Forderungen, was in Berlin durchaus als Affront aufgefasst wurde.
Der Hintergrund von Raus damaligem diplomatisch-kalkuliert undiplomatischen Auftritt: Polen fordert von der Bundesregierung stärker denn je Reparationen für die von Nazi-Deutschland verursachten Gräuel, Opfer und materielle Schäden.
DRUCK Diesmal wartete Rau nicht bis zur gemeinsamen Pressekonferenz, um klarzumachen, wie ernst es ihm und seiner nationalkonservativen Regierungspartei PiS mit den Entschädigungsforderungen ist.
Kurz vor der Ankunft Baerbocks am Montag hatte die polnische Regierung noch einmal den Druck auf Berlin erhöht und dem Auswärtigen Amt eine diplomatische Note zugestellt. Von 1,3 Billionen Euro Entschädigungszahlungen war darin die Rede. Die Summe wäre fast das Dreifache des Jahresbudgets des Bundes.
Die Frage der Reparationen sei aus Sicht der Bundesregierung abgeschlossen. »Das weißt du auch«, sagt Baerbock nachdrücklich an Rau gewandt.
Die Botschaft der polnischen Regierung war deutlich: Wir geben nicht nach. Und anders als von manchem politischen Beobachter verlautbart, handelt es sich nicht nur um ein innenpolitisches Manöver der PiS im Vorfeld der Parlamentswahlen im nächsten Jahr.
Kein einfacher Besuch also. Denn die Haltung der Bundesregierung ist klar: Zwar bekennt sie die Bundesregierung uneingeschränkt zur historischen Verantwortung Deutschlands. Sie weist aber die Reparationsforderungen unmissverständlich zurück – und beruft sich dabei auf den Zwei-plus-Vier-Vertrag von 1990, der in Berlin als »abschließende Regelung« über noch offene Fragen nach dem Zweiten Weltkrieg angesehen wird.
In dem Abkommen, das von den vier Siegermächten des Zweiten Weltkriegs sowie der Bundesrepublik und der DDR geschlossen wurde, wird die Oder-Neiße-Linie als polnische Westgrenze anerkannt. Es sind aber keine Reparationszahlungen Deutschlands vorgesehen. Allerdings war Polen selbst kein Unterzeichner des Zwei-plus-Vier-Vertrags.
AUSSÖHNUNG Annalena Baerbock betonte direkt nach ihrer Landung in Warschau beim Empfang in der Deutschen Botschaft, wie wichtig ihr es sei, sich zur historischen Verantwortung Deutschlands zu bekennen – und wie dankbar sie für Aussöhnung mit dem Nachbarland sei.
In Anwesenheit des polnischen Schoa-Überlebenden Marian Turski sowie von Veteranen des Warschauer Aufstands sagte sie: »Nach dem Zweiten Weltkrieg, nach furchtbarsten deutschen Verbrechen waren Polinnen und Polen bereit, sich uns zuzuwenden. Dafür sind wir ewig dankbar.«
Tags darauf traf die Grünen-Politikerin im Außenministerium ihren Amtskollegen Zbigniew Rau zu einem zweistündigen Gespräch. Viel wurde spekuliert, wie die Atmosphäre während der anschließenden Pressekonferenz sein würde. Diesmal war Rau sichtlich bemüht, den Konflikt mit Berlin nicht eskalieren zu lassen. Indes demonstrierte der PiS-Politiker, dass die Reparationsforderungen Polens unverändert Bestand haben. »Ich bin überzeugt, dass sich die Position der deutschen Regierung in dieser Frage als Ergebnis des Dialogs weiterentwickeln wird«, sagte er.
»Deutschland steht zu seiner historischen Verantwortung ohne Wenn und Aber.«
Annalena Baerbock
Doch Baerbock blieb hart und erteilte Entschädigungsforderungen unmissverständlich eine Absage. Die Frage sei aus Sicht der Bundesregierung abgeschlossen. »Das weißt du auch«, rief die Ministerin an Rau gewandt. Es bleibe trotzdem die ewige Aufgabe aller Deutschen, an das millionenfache Leid zu erinnern, das Deutschland Polen angetan habe.
SCHMERZ Die Brutalität »mit einer menschenverachtenden Kampagne der Unterdrückung, der Germanisierung, der puren Vernichtung« habe »in Polen noch mal ganz anderen Schmerz als an anderen Orten hervorgebracht«.
Es sei »immer wieder spürbar, wie präsent dieser Schmerz bis heute ist«, sagte Baerbock. »Und zwar nicht nur bei 90-Jährigen, sondern auch bei Neunjährigen, weil dieser Schmerz über Generationen vererbt wird.« Das Gedenken daran müsse auch bei jungen Menschen in Deutschland wach gehalten werden. Baerbocks zentraler Punkt ihres Besuchs: Dafür müsse die Zusammenarbeit zwischen beiden Ländern weiter ausgebaut werden.
Dass Polen seinerseits mit Blick auf die Reparationszahlungen regelmäßig von israelischen Politikern und jüdischen Organisationen kritisiert wird, war auf der Pressekonferenz freilich kein Thema. Immer wieder hat Warschau in den letzten Jahren Forderungen zurückgewiesen, Polen solle jüdischen Holocaust-Opfern ihr unter deutscher Besatzung geraubtes und später konfisziertes Eigentum zurückgeben oder dafür Entschädigungen zahlen.
Es ist Baerbock anzusehen, dass das Gedenken auf dem Friedhof für sie kein Termin wie jeder andere ist.
Wenige Stunden nach ihrem Termin mit Rau steht Annalena Baerbock neben der 95-jährigen Wanda Traczyk-Stawska auf dem Friedhof für die Aufständischen und erinnert an den Warschauer Aufstand gegen die deutschen Besatzer von 1944. Es ist der Außenministerin deutlich anzusehen, dass das Gedenken an die rund 16.000 getöteten Kämpfer und 150.000 bis 200.000 Zivilisten für sie kein Termin wie jeder andere ist. Schon gar nicht ist er Pflichtprogramm, das man als Politiker routiniert abspult.
AUFSTAND Am 1. August 1944 hatte sich die Polnische Heimatarmee (Armia Krajowa) gegen die Besatzer aus Nazi-Deutschland erhoben. Der Aufstand wurde binnen zweier Monate niedergeschlagen. Ein Jahr zuvor hatten bereits die Juden im Ghetto der Stadt den deutschen Besatzern die Stirn geboten. Und auch im Sommer 1944 waren Juden in den Reihen der Heimatarmee zu finden.
»Mit größter Wahrscheinlichkeit kämpften mehr Juden beim Warschauer Aufstand im August 1944 mit als beim Ghettoaufstand im April 1943, schreibt der Historiker Timothy Snyder in seinem Buch Bloodlands. »Viele befreite jüdische Sklavenarbeiter schlossen sich der Heimatarmee an und kämpften in gestreifter Häftlingskleidung und Holzschuhen mit ›völliger Gleichgültigkeit gegenüber der Frage: Leben oder Tod‹ wie ein Soldat der Heimatarmee sich erinnerte.«
Nach dem Ende des Aufstands ordnete Heinrich Himmler die komplette Zerstörung Warschaus an.
Einer der bekanntesten jüdischen Kämpfer war Stanislaw Aronson, der aus einem Deportationszug nach Auschwitz hatte fliehen können und sich 1944 an den Kämpfen im Stadtteil Wola, wo die Deutschen in diesen Sommertagen allein zwischen 40.000 und 50.000 Zivilisten ermordet hatten, beteiligte.
Auf dem dortigen »Umschlagplatz«, von wo aus auch seine Familie zuvor in Tod geschickt wurde, gelang es ihm und seinen Mitstreitern rund 50 jüdische Zwangsarbeiter aus Griechenland zu befreien. Auch nach der Gefangennahme durch die Deutschen gelang ihm die Flucht aus einem Durchgangslager, so dass er den Krieg überleben konnte.
VERLUST Nach dem Ende des Aufstands ordnete Heinrich Himmler die komplette Zerstörung Warschaus an, kein Stein sollte auf dem anderen bleiben. »Keine andere europäische Hauptstadt erlitt ein solches Schicksal: die physische Zerstörung und den Verlust der halben Bevölkerung«, resümierte der Historiker Sznyder.
Sichtlich bewegt von den Schilderungen Traczyk-Stawskas über das Ausmaß der deutschen Gräuel versucht Baerbock Worte zu finden für etwas, für das es keine Worte gibt. Gemeinsam mit ihr besucht die Ministerin die vor einigen Tagen erst eröffnete Gedenkkammer auf dem Friedhof. Es handelt sich um ein geräumiges, einstöckiges, steinernes Gebäude, das an einen Bunker erinnert.
In Deutschland wisse man nicht genug über das unermessliche Leid, das über das polnische Volk gebracht wurde, sagte Baerbock.
Unmittelbar im Anschluss an ihr Treffen sagt das Auswärtige Amt deutsche Finanzhilfen für den weiteren Ausbau des Projektes der Gedenkkammer zu. Die Kosten belaufen sich auf rund 200.000 Euro.
Auf den sieben Abschnitten des Gedenkortes sind mehr als 60.000 Messingtafeln mit den Namen, Vornamen und Altersangaben der gefallenen Aufständischen eingraviert. Zwischen den Tafeln sind Leerstellen, die eines Tages mit weiteren Daten gefüllt werden. Jetzt sind diese leeren Stellen den nicht identifizierten Opfern gewidmet.
In Deutschland wisse man nicht genug über das unermessliche Leid, das über das polnische Volk gebracht wurde, sagt Baerbock auch auf dem Friedhof. Umso dankbarer sei sie für das Engagement von Traczyk-Stawska bei der Errichtung des Erinnerungsortes. »Dieser Ort, der muss für ewig bleiben.«