Am Donnerstag vergangener Woche meldete das Büro des israelischen Ministerpräsidenten Naftali Bennett, Wladimir Putin habe sich in einem Telefonat persönlich für die antisemitische Entgleisung seines Außenministers Sergej Lawrow entschuldigt, der über Hitlers jüdische Herkunft spekulierte und Juden als die »größten Antisemiten« bezeichnete.
In Israel und im westlichen Ausland wurde Putins Entschuldigung sowohl mit Verwunderung als auch mit Genugtuung registriert. Obschon Jerusalem, Washington, Berlin und Paris Lawrows Äußerungen scharf verurteilten und der israelische Außenminister Yair Lapid eine Entschuldigung von Russland forderte, konnte man mit einer nachgiebigen Haltung des arrogant und kompromisslos auftretenden Kreml kaum rechnen – gerade mitten im Krieg und im Kontext der zunehmenden Eskalation.
»ukrainische nazis« Putins Entschuldigung kam umso überraschender, als das russische Außenministerium und die Staatspropaganda nach Lawrows Auftritt gar keine Reue zeigten. Sie griffen vielmehr Israel in alter sowjetischer Manier an, brachten den jüdischen Staat mit »ukrainischen Nazis« in Verbindung und sprachen sogar von der direkten jüdischen Mitwirkung am nationalsozialistischen Judenmord. Demonstrativ wurde in Moskau eine Hamas-Delegation empfangen.
Es sah zunächst nach einem von Moskau kalkulierten Bruch mit dem »westlichen Staat« Israel aus.
Es sah zunächst nach einem von Moskau kalkulierten Bruch mit dem »westlichen Staat« Israel aus. Dann aber kam Putins vermeintliche Entschuldigung, die in Russland zwar nicht hervorgehoben, jedoch auch nicht bestritten wurde. Anschließend sah Moskau von der aggressiven antisemitischen beziehungsweise anti-israelischen Rhetorik ab. War dies bloß ein antisemitischer Ausrutscher des erfahrenen, jedoch mit der neuen außenpolitischen Situation zunehmend überforderten Chefdiplomaten Lawrow?
Wohl kaum. Es war kein Ausrutscher. Es handelte sich eher um eine im Voraus geplante antisemitische Aktion, bei der Lawrow dem jüdischen Staat und der jüdischen Bevölkerung innerhalb und außerhalb Russlands eine Lektion erteilen wollte und sich dabei massiv verschätzt hat. Sie lässt sich auf das Zusammenspiel mehrerer Faktoren zurückführen.
herkunft Hierzu gehört die in Russland stark und im Westen immer öfter hervorgehobene jüdische Herkunft des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj und weiterer ukrainischer Spitzenpolitiker, welche die Absurdität der russischen Propagandathese über die »Nazi-Vorherrschaft« in der Ukraine entlarvt und Moskau schon seit Langem ärgert.
Das Außenministerium und die Staatspropaganda zeigten keine Reue.
Unzufrieden ist der Kreml außerdem mit Israel, das zwar im aktuellen Krieg neutral bleibt und zum Teil als Vermittler fungiert, jedoch die Ukraine diplomatisch, technisch sowie mit Hilfsgütern unterstützt und zudem die propagandistische Instrumentalisierung des Holocaust in Russland nicht akzeptieren will.
Und schließlich ist die russische Führung von der Tatsache irritiert, dass sich etliche russische Kriegsgegner und Kriegsgegner jüdischer Herkunft – darunter bekannte Geschäftsleute, Künstlerinnen und sogar ehemalige Staatsfunktionäre – nach Israel abgesetzt haben, wodurch sich die antisemitische Stimmung in der Russischen Föderation erhöhte und radikale Nationalisten gegen die »Verjudung« russischer Eliten wetterten.
kampagne Unter diesen Umständen war eine antisemitische Kampagne lediglich eine Frage der Zeit. Überraschend im Fall Lawrow war keinesfalls die antisemitische Rhetorik, sondern die Radikalität und der heimtückische Charakter seiner Äußerungen, die verschwörungstheoretische Vorstellungen des russischen Außenministers offenbarten.
Wenn aber Russland letztendlich den antisemitischen Vorfall einzuräumen beschloss, hätte dies Lawrow nicht selbst tun können? War es notwendig, dass Putin persönlich – wie es manche antisemitische Autoren in Russland betonten – vor »den Juden« niederkniete?
Wenn aber Russland letztendlich den antisemitischen Vorfall einzuräumen beschloss, hätte dies Lawrow nicht selbst tun können?
Obgleich diese Fragen nicht eindeutig beantwortet werden können, scheinen zwei Aspekte wichtig, die Putins Verhalten verdeutlichen können: Erstens wurde nach Putins Anruf in Israel berichtet, dass die Russen ihre Truppen aus Syrien in die Ukraine verlegen und ihre Stützpunkte dem Iran und der Hisbollah übergeben würden.
nebenthema Diese rasante Veränderung hätte Putin mit Bennett persönlich besprechen müssen, und Lawrows Äußerungen wären dabei möglicherweise lediglich ein Nebenthema gewesen, das nunmehr gerade in westlichen Medien überbewertet wird. Zweitens stammen der Diplomat Lawrow und der KGB-Offizier Putin aus dem sowjetischen Machtapparat, in dem antisemitisch geprägte Verschwörungstheorien und etwa die Vorstellung, die Juden würden die Welt regieren, fest verankert waren.
Während Israelfeindlichkeit und Antisemitismus im sowjetischen Außenministerium als Grundhaltung galten, wurde die sowjetische Niederlage im »Kalten Krieg« in KGB-Kreisen nicht selten auf die übermächtigen Juden zurückgeführt, die man zu stark herausgefordert habe und mit denen man in Zukunft lieber vorsichtig umgehen sollte.
Der Verschwörungstheoretiker Putin scheint diese Einstellung des KGB verinnerlicht zu haben; so lautet eine in Israel seit den frühen 2000er-Jahren verbreitete Hypothese, die eine (Teil)erklärung für Putins scheinbare Israel- und Judenfreundlichkeit liefert. Die Ereignisse der letzten Woche haben diese Hypothese eher untermauert.
Der Autor ist Historiker in Düsseldorf.