Das Bundesverfassungsgericht hat am Mittwoch in einer Entscheidung zur Meinungsfreiheit zwei Urteile von Gerichten aufgehoben, die der Sänger Xavier Naidoo (»Die Söhne Mannheims«) gegen eine Referentin der Amadeu-Antonio-Stiftung erwirkt hatte.
Diese hatte 2017 in einem Vortrag zum Thema »Reichsbürger – Verschwörungsideologie mit deutscher Spezifik« auf eine Frage aus dem Publikum hin gesagt: »Ich würde ihn (Naidoo) zu den Souveränisten zählen, mit einem Bein bei den Reichsbürgern. Er ist Antisemit, das darf ich, glaub ich, aber gar nicht so offen sagen, weil er gerne verklagt. Aber das ist strukturell nachweisbar.«
UNTERLASSUNGSKLAGE Die Vorahnung der Frau trog nicht: Naidoo verklagte sie auf Unterlassung – und bekam in zwei Instanzen Recht. Sowohl das Landgericht Regensburg als auch das Oberlandesgericht Nürnberg untersagten der Frau, wörtlich oder sinngemäß die Behauptung aufzustellen oder zu verbreiten, Xavier Naidoo sei Antisemit. In der Gesamtabwägung sei der Eingriff in die Ehre und das Persönlichkeitsrecht Naidoos rechtswidrig, die personale Würde des Sängers beeinträchtigt und eine öffentliche Prangerwirkung gegeben.
Dem Werturteil der Beklagten liege zudem »ein tatsächlich unrichtiger Äußerungsgehalt« zugrunde, so die Richter. Die objektive Richtigkeit ihrer Aussage sei nicht belegt.
Das sah die zweite Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts nun ganz anders – und hob die entsprechenden Urteile der beiden Gerichte auf. Die von Naidoo Beklagte hatte in Karlsruhe Verfassungsbeschwerde eingereicht. Die Entscheidungen verletzten die Frau in ihrem Grundrecht auf freie Meinungsäußerung, so die Richter.
»Wer im öffentlichen Meinungskampf zu einem abwertenden Urteil Anlass gegeben hat, muss eine scharfe Reaktion hinnehmen, auch wenn sie das persönliche Ansehen mindert«, folgerte das Bundesverfassungsgericht im Hinblick auf das von Naidoo vorgebrachte Argument, die Etikettierung als »Antisemit« entfalte eine Prangerwirkung.
Die Aussage der Referentin sei auch nicht als mehrdeutig zu verstehen gewesen, so die Richter. Die Fachgerichte seien zudem »verfassungsrechtlich relevant fehlerhaft davon ausgegangen, es falle entscheidungserheblich zu ihrer Last, dass der tatsächliche Gehalt ihrer Äußerung unrichtig sei und sie die Richtigkeit ihrer Äußerung nicht habe belegen können«. Der von ihr getätigte Satz »Aber das ist strukturell nachweisbar« sei keine Tatsachenbehauptung, auf der sich ihre Bewertung des Sängers als »Antisemit« gründe.
ÖFFENTLICHES INTERESSE Ebenfalls fehlerhaft, so die Karlsruher Richter, sei ferner die Annahme des Oberlandesgerichts Nürnberg, der Vorhalt des Antisemitismus bei einem Künstler, der im besonderen Maß im Licht der Öffentlichkeit stehe, sei besonders schwerwiegend. Das Gericht verkenne damit die Bedeutung und Tragweite der grundgesetzlich geschützten Meinungsfreiheit.
Es handele sich hier nicht um eine private Auseinandersetzung zur Verfolgung von Eigeninteressen, sondern um eine »die Öffentlichkeit wesentlich berührende Frage«. Zudem müsse, wer im öffentlichen Meinungskampf zu einem abwertenden Urteil Anlass gegeben habe, auch eine scharfe Reaktion hinnehmen – selbst dann, wenn sie das persönliche Ansehen mindere, befanden die Verfassungsrichter.
Schließlich habe Xavier Naidoo sich mit seinen streitbaren politischen Ansichten freiwillig in den öffentlichen Raum begeben und beanspruche für sich öffentliche Aufmerksamkeit. Die Annahme, die Aussage der von ihm beklagten Frau entfalte eine Prangerwirkung, sei daher abwegig.
»Aufmerksamkeit und eine Abhängigkeit von der Zustimmung eines Teils des Publikums [...] besonderen Schutz zuteil werden zu lassen, hieße Kritik an den durch ihn verbreiteten politischen Ansichten unmöglich zu machen. Zur öffentlichen Meinungsbildung muss eine daran anknüpfende Diskussion möglich sein«, befand die Kammer in ihrer Entscheidung.
AZ: 1 BvR 11/20