Darf eine Versammlungsbehörde den Veranstaltern einer propalästinensischen Demonstration die Parole »From the River to the Sea, Palestine will be free« untersagen? Diese Frage beschäftigt momentan deutsche Verwaltungsgerichte – und sie kommen zu sehr unterschiedlichen Bewertungen.
Als Bundesinnenministerin Nancy Faeser im Herbst des vergangenen Jahres ein Betätigungsverbot für die Terrororganisation Hamas in Deutschland aussprach, machte sie auch klar, dass mit der Parole nicht nur das Existenzrecht Israels verneint werde, sondern diese auch Wahlspruch der Hamas sei. Sie öffentlich zu äußern bedeute, Unterstützung für die verbotene Terrororganisation zu bekunden.
Das Verbreiten von »Propagandamitteln« verbotener Terrororganisationen ist aber nach Paragraph 86 des Strafgesetzbuches verboten. Doch ob das auf die fragliche Parole zutrifft, ist unter Juristen umstritten, denn: Die Forderung nach einer »Befreiung« Palästinas »vom (Jordan-) Fluss zum (Mittel-) Meer« gab es bereits vor der Gründung der Hamas Ende der 80er Jahre.
Vorvergangene Woche befanden sowohl das Verwaltungsgericht Frankfurt als auch (in zweiter Instanz) der Hessische Verwaltungsgerichtshof (VGH), dass eine Auflage der Stadt Frankfurt an die Anmelder einer Demonstration gegen den Gaza-Krieg, in welcher das Skandieren des Satzes ausdrücklich untersagt wurde, »offensichtlich rechtswidrig« sei.
Hessen: Auch Satz »Juden sind Kindermörder« darf nicht untersagt werden
Ein Argument der drei Richterinnen: Es sei zwar zu berücksichtigen, dass mit dem Spruch der Wunsch nach einem Palästina ausgedrückt werde, das auch das Gebiet des Staates Israel in seinen heutigen Grenzen beinhalte. Es seien neben dem bewaffneten Kampf aber auch friedliche Mittel und Wege denkbar, um ein solches Ziel zu erreichen. Als Beispiele nannte der Verwaltungsgerichtshof »völkerrechtliche Verträge, eine Zwei-Staaten-Lösung, einen einheitlichen Staat mit gleichen Bürgerrechten für Israelis und Palästinenser«.
Selbst der von der Stadt Frankfurt explizit im Vorfeld untersagten Aufruf »Juden Kindermörder«, so der Hessische VGH in seinem Beschluss, hätte nicht von vornherein seitens der Stadtverwaltung untersagt werden dürfen. Der 8. Senat des VGH urteilte, dass es durch das Rufen dieser Parole, ungeachtet ihrer möglichen Strafbarkeit, »an einer zu prognostizierenden unmittelbaren Gefahr für die öffentliche Sicherheit« gefehlt habe.
In dem Fall, dass »während einer Versammlung strafrechtlich relevante Parolen skandiert werden, obliegt es den zuständigen Behörden, aufgrund der situativen Beurteilung der Lage vor Ort die notwendigen und verhältnismäßigen Maßnahmen zu treffen«, so der 8. Senat des Gerichtshofs.
Mit anderen Worten: Selbst wenn Demonstranten Parolen wie »Juden sind Kindermörder« gerufen hätten, hätte dies nicht automatisch eine Gefahr für die öffentliche Ordnung bedeutet. Im Vorfeld des Aufzugs sei es zudem gemäß der Gefahrenprognose der Frankfurter Polizei unwahrscheinlich gewesen, dass diese Parole überhaupt von Teilnehmern gerufen werden würde, befand der VGH.
Die spitzfindige Argumentation der Kasseler Richterinnen löste bei Juristen, die mit der Materie befasst sind, eher Kopfschütteln aus. Eine Sprecherin des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs stellte gegenüber dieser Zeitung klar, dass sich der Beschluss des Senats keine allgemeinverbindliche Wirkung habe. Die Bindungswirkung des Beschlusses sei »auf die Verfahrensbeteiligten und den streitgegenständlichen Sachverhalt begrenzt. Mögliche Auflagen im Zusammenhang mit zukünftigen Versammlungen haben die jeweiligen Versammlungsbehörden in eigener Zuständigkeit zu prüfen«, so die Gerichtssprecherin.
Dennoch - und das hielt der 8. Senat des VGH in seinem Beschluss als Leitsatz fest: Die »politische Konfliktträchtigkeit« einer Versammlung allein reiche nicht aus, um im Vorfeld bestimmte Beschränkungen aufzuerlegen. Diese unterlägen immer einer am konkreten Einzelfall orientierten Gefahrenprognose.
Baden-Württemberg: Andere rechtliche Bewertung
In einem ähnlichen Fall zu einem ganz anderen Ergebnis kam hingegen der in Mannheim ansässige Verwaltungsgerichtshof des Landes Baden-Württemberg. Dieser hob am Mittwoch einen am selben Tag ergangenen Beschluss des Verwaltungsgerichts Freiburg auf. In diesem hatte das Gericht der Stadt Freiburg ebenfalls untersagt, den Anmeldern einer Demonstration das Skandieren der Parole »From the River to the Sea, Palestine will be free« verbieten zu lassen. Das Interesse der Anmelder der Demonstration an der Nutzung des Slogans überwiege das öffentliche Interesse daran, dessen Verwendung zu verhindern, so die Freiburger Verwaltungsrichter.
Vor dem VGH bekam dagegen die Stadtverwaltung Recht. In dem Beschluss des 2. Senats, der der Jüdischen Allgemeinen vorliegt, heißt es wörtlich: »Es ist bei lebensnaher Betrachtung davon auszugehen, dass die streitige Parole der verbotenen Vereinigung Hamas zuzuordnen ist.« Gestützt werde diese Annahme durch die Verbotsverfügung des Bundesinnenministeriums, so die Mannheimer Richter.
In Berlin werde man sich schon etwas dabei gedacht haben, so die Richter - auch, wenn sie das vornehmer formulierten: Man dürfe davon ausgehen, dass die Zuordnung »auf Ermittlungen und einer gewissen Sachkunde« beruhe. Dass die Parole schon vor Gründung der Hamas verwendet worden sei und auch von anderen Organisationen verwendet werde, sei unerheblich. Entscheidend sei vielmehr, dass sie »im politischen Bewusstsein der Öffentlichkeit als Bestandteil der gewaltsam verfolgten Ziele« der Hamas verankert sei.
Ausdrücklich hielt der VGH Baden-Württemberg fest, man teile nicht die Ansicht der hessischen Kollegen, dass das Ziel der Befreiung Palästinas auch durch friedliche Mittel erreicht werden könne. »Bei lebensnaher Betrachtungsweise - insbesondere nach den Ereignissen des 7. Oktober 2023 - muss davon ausgegangen werden, dass mit der Parole ein gewaltsames Vorgehen gemeint ist«, so der VGH Baden-Württemberg.
Gefahrenprognose
Allerdings konnten sie - zumindest nicht im Eilverfahren - nicht feststellen, dass und von wem der umstrittene Slogan wahrnehmbar »mit friedlichen politischen Mitteln und Wegen in Verbindung gebracht wird.« Die Auffassung der hessischen Verwaltungsrichter erscheine daher doch »eher theoretisch«, befanden die Baden-Württemberger.
Dass die rechtliche Bewertung des Satzes schwierig ist, war dem 2. Senat gleichwohl bewusst. Ein Eingriff in das grundgesetzlich geschützte Recht auf Versammlungsfreiheit ist gemäß der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nur möglich, wenn gleichgewichtige Rechtsgüter betroffen sind. Zwar müssten im Rahmen der Gefahrenabschätzung »konkrete und nachvollziehbare tatsächliche Anhaltspunkte« vorhanden sein, die »eine hinreichende Wahrscheinlichkeit des Gefahreneintritts ergeben.« Allerdings teilte der VGH die Auffassung der Freiburger Versammlungsbehörde, dass das Risiko bestehe, dass die Parole gerufen werde.
Es dürfte also noch viel Wasser den Jordan hinunter ins Tote Meer fließen, bis in Deutschland rechtliche Klarheit in Form einer höchstrichterlichen Entscheidung besteht, ob und inwiefern die Parole »From the River to the Sea« von Behörden im Vorfeld von öffentlichen Versammlungen und Aufmärschen untersagt werden darf.
Nicht überall gibt es aber offenbar Probleme mit den Auflagen. Ein Sprecher der Stadt München teilte dieser Zeitung auf Anfrage mit, die Parole »From the River to the Sea« werde bei prognostizierter Verwendung bei einer Demonstration präventiv verboten, soweit keine zulässige Verwendung angenommen werden könne.
Bislang habe es bei Versammlungen in München keine Probleme mit diesen Auflagen gegeben. Auch habe kein Anmelder dagegen geklagt. Nur vereinzelt sei es bei propalästinensischen Demos zu strafrechtlich relevanten Äußerungen gekommen, so der Sprecher.