Pro und Contra

Kann der Besuch einer Gedenkstätte Antisemitismus verhindern?

Figurengruppe von Fritz Cremer in der KZ-Gedenkstätte Buchenwald Foto: picture alliance / imageBROKER

PRO – Gedenkstättenleiter Jens-Christian Wagner sagt: »Ein reflexives Geschichtsbewusstsein kann gestärkt werden.«

Sicherlich ist die Vorstellung naiv, Gedenkstättenbesuche könnten per se gegen Antisemitismus und antidemokratisches Denken immunisieren. Gedenkstätten sind keine demokratischen Läuterungsanstalten, und niemand wird zum besseren Menschen, weil er einmal durch eine Gedenkstätte geführt wurde. Gedenkstättenbesuche können aber, wenn sie gut vor- und nachbereitet werden und mehr sind als nur eine kurze Stippvisite, dazu beitragen, historische Urteilskraft und ein reflexives Geschichtsbewusstsein zu stärken.

Konkret heißt das, dass heutige Erscheinungsformen von Antisemitismus und extrem rechtem Denken vielfach erst durch die historische Perspektive erkannt und damit auch bekämpft werden können.
Ein Beispiel: Die insbesondere unter Pandemieleugnern populäre QAnon-Verschwörungslegende, wonach Hillary Clinton und andere vermeintlich finstere Gesellen Kinder gefangen halten, foltern und ihr Blut als Verjüngungsserum trinken, mag man auf den ersten Blick als besonders bizarres Märchen abtun.

ritualmordlegende Dass es sich um eine moderne Variante des uralten antisemitischen Mythos vom jüdischen Ritualmord handelt, erkennt dagegen nur, wer historisches Wissen erworben hat und in der Lage ist, gegenwärtige Entwicklungen aus der Geschichte heraus zu deuten.

Dazu kann ein Gedenkstättenbesuch beitragen. Gedenkstätten wie Dachau, Buchenwald oder Bergen-Belsen vermitteln uns, wohin der Weg führt, wenn Minderheiten und vermeintlich Fremde als minderwertig oder gefährlich dargestellt werden und ihr Ausschluss aus der Gesellschaft gefordert wird. Sie zeigen, welches Leid der Nationalsozialismus für die Opfer bedeutete, für Jüdinnen und Juden, Sinti und Roma, Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, politisch Andersdenkende, Menschen mit Behinderung, Homosexuelle sowie als »asozial« oder »kriminell« Verfolgte.

Sicherlich: Davon kann man auch im Fernsehen oder in Büchern erfahren. Man muss nicht eine Gedenkstätte besuchen, um zu wissen, für welches Grauen die Nazis verantwortlich waren. Doch in den Gedenkstätten werden aus abstrakten Zahlen persönliche, anrührende Geschichten.
Hinzu kommt der Beglaubigungswert der historischen Stätten: Nach dem absehbaren Ende der Zeitzeugenschaft können nur noch die baulichen Relikte in den ehemaligen Lagern bezeugen, dass die Verbrechen tatsächlich begangen wurden. Erhalten gebliebene Zäune, Barackenfundamente und Verbrennungsöfen sind mehr als Relikte.

kontextwissen Sie sind Beweismittel und historische Sachquellen, die Zeugnis von den hier begangenen Verbrechen ablegen. Ihren didaktischen und geschichtspolitischen Wert sollte man nicht unterschätzen, und im Zeitalter postfaktischer Digitalität ist es eben etwas anderes, ob man diese Zeugnisse selbst gesehen oder nur davon gehört oder gelesen hat.
Die historischen Relikte und Quellen deuten kann aber nur, wer das nötige Kontextwissen mitbringt und wem dieses Wissen vor Ort vermittelt wird.

Das ist bei Gruppenbesuchen in Gedenkstätten nicht ohne eine gründliche Vorbereitung möglich, und es setzt eine angemessen intensive Auseinandersetzung mit der Geschichte am historischen Ort voraus. Das seit den 90er-Jahren in vielen Gedenkstätten übliche Standardformat einer ein- oder zweistündigen Führung im Frontalvortrag ist dafür allerdings nicht geeignet.

Mittlerweile haben wir es bei den Jugendlichen, die Gedenkstätten besuchen, mit einer Generation zu tun, deren Großeltern den Nationalsozialismus meist schon nicht mehr selbst erlebt haben. Hinzu kommt, dass viele wegen eines Migrationshintergrundes ohnehin keinen familiären Bezug zum Thema haben. Eine Kurzführung durch die Gedenkstätte bietet für diese Gruppen keinen Bezugspunkt zum eigenen Leben und bleibt damit wirkungslos.

reflexion Wenn dagegen auf zielgruppenorientierte intensive Formate gesetzt wird, in denen im Sinne des forschenden Lernens die historischen Quellen und die gemeinsame Reflexion im Mittelpunkt stehen, können Gedenkstättenbesuche kritisches Geschichtsbewusstsein fördern und die Verbreitung antisemitischer Narrative eindämmen.

Voraussetzung ist, dass in den Gedenkstätten nicht Heilslehren verkündet werden oder Betroffenheitspädagogik betrieben wird, sondern dass wissenschaftlich fundiert, quellengestützt und mit gesellschaftsgeschichtlicher Perspektive eine wirkliche Auseinandersetzung mit der Geschichte stattfindet.

Dafür ist eine intensive gedenkstättenpädagogische Begleitung nötig, für die die nötigen personellen und räumlichen Kapazitäten zur Verfügung stehen müssen. Doch daran hapert es angesichts leerer Kassen in vielen deutschen Gedenkstätten.

Jens-Christian Wagner ist Historiker. Er ist Leiter der Stiftung
Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora in Weimar.

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CONTRA – Der Schoa-Überlebende Ib Katznelson meint: »Der Kampf gegen Antisemitismus muss bereits in den Schulen beginnen.«

Während der Corona-Pandemie sprach ich bei einer Gedenkveranstaltung im ehemaligen Konzentrationslager Ravensbrück. Ich sagte, dass ich die Entwicklung eines Impfstoffes gegen das Coronavirus als dringend notwendig erachten würde, da sich die Infektion rasch ausbreitete. Ähnlich breitet sich auch der Antisemitismus rasant aus.

Aber wir brauchen keinen neuen Impfstoff gegen Judenhass zu entwickeln. Wir wissen bereits, dass Aufklärung und Information der beste Impfstoff sind und zu einem Verständnis dafür beitragen können, dass Antisemitismus und jede Art von Diskriminierung gefährlich sind und zu katastrophalen Ergebnissen geführt haben und führen können.

botschaft Ich habe Hunderte Male an Schulen gesprochen. Als ich damit begann, dachte ich, die Erzählung meiner Geschichte – die tragisch hätte enden können, wenn ich nicht vor der Deportation nach Auschwitz gerettet worden wäre – würde an sich schon eine klare Botschaft darüber vermitteln, wozu Antisemitismus führen kann. Ich war überzeugt, dass die Kinder die Botschaft verstehen würden. Der Holocaust geschah, weil sich niemand traute, »Stopp« zu sagen.

Nach einem Vortrag in einer Schule habe ich mit dem Lehrer zu Mittag gegessen. Er sagte mir, er sei sich sicher, dass die Kinder keinen Zusammenhang zwischen meiner Geschichte und der Gefährlichkeit des Antisemitismus sehen würden.

Danach habe ich versucht, deutlich zu machen, dass meine Geschichte nur ein Beispiel für Folgen des Antisemitismus ist. Es ist viele Jahre her, aber es ist immer noch wichtig, sich an Primo Levis Worte zu erinnern: »Es ist geschehen, und deshalb kann es wieder geschehen«. Man würde es nicht für wahr halten, aber es ist so. Jeder 20. Europäer hat noch nie etwas vom Holocaust gehört.

strategien Einige europäische Länder haben Strategien zur Bekämpfung des Antisemitismus verabschiedet. Alle Strategien enthalten eine Reihe von Elementen, die deutlich machen, dass die Bekämpfung von Antisemitismus so kompliziert ist, dass es keinen einfachen Weg gibt.
Schauen Sie sich nur die EU-Strategie zur Bekämpfung von Antisemitismus an.

Sie enthält mehrere Aktionsbereiche. Einer davon ist das Gedenken, die Forschung und die Aufklärung über den Holocaust. Wir wissen, dass unsere Einstellungen zum Leben und unsere Beziehungen zu anderen Menschen in unserer Kindheit und in jungen Jahren geprägt werden. Daher liegt es auf der Hand, dass der Kampf gegen Antisemitismus bereits in den Schulen beginnen muss.

In einigen Schulen gibt es Programme, bei denen Klassen Gedenkstätten in Konzentrationslagern besuchen. Ich war bewegt, als ich einmal das Konzentrationslager Ravensbrück besuchte und viele frische rote Rosen an der Mauer zum Gedenken an die norwegischen Häftlinge sah, und ich weiß, dass die Lehrer die Kinder mit vielen Informationen und Wissen über das Lager vorbereitet hatten.

vorbereitung Die Besucher müssen gut vorbereitet sein. Es reicht nicht aus, sich nur Ausstellungen mit Fotos, Texten und physischen Objekten oder Gedenktafeln anzusehen. Eine Lehrerin in einer der Schulen, mit denen ich mehrmals gesprochen habe, erzählte mir, dass sie seit mehr als zehn Jahren mit Klassen Lager, vor allem Auschwitz, besucht und in dieser Zeit eine Veränderung festgestellt hat. Besuche in Lagern hinterlassen einen tiefen Eindruck bei den Kindern. Aber es ist eine Veränderung eingetreten. Früher hielt dieser Eindruck sehr lange an. Jetzt ist der Eindruck verblasst oder sogar verschwunden, wenn sie wieder zu Hause sind.

Einige waren sogar überrascht, dass das, was sie gehört und gesehen haben, nicht so schrecklich war, wie sie erwartet hatten. Der Grund dafür ist zweifellos, dass junge Menschen heute mit Bildern und YouTube-Videos aller Art bombardiert werden, in denen sie auf ihren Smartphones Gewalt in einem Ausmaß gesehen haben, das die Eindrücke, die sie in KZ-Gedenkstätten erhalten könnten, überschattet.

Wenn dies der Eindruck ist, den der Besuch eines Lagers wie Auschwitz vermittelt – eines Lagers mit den schrecklichsten Ausstellungen, die man sich vorstellen kann –, dann kann man bezweifeln, inwieweit der Besuch einer KZ-Gedenkstätte ein wichtiger Faktor im Kampf gegen Antisemitismus ist. Dies ist eine echte Herausforderung für die Organisatoren von Lagergedenkstätten, die weit weniger schreckliche Dinge auszustellen haben.

identifikation Für die nachhaltige Wirkung eines Lagerbesuchs ist es wichtig, dass die Besucher eine Art Identifikation mit den Opfern bekommen. Dass ein Schulkind spürt, dass – um eines der Exponate in Auschwitz als Beispiel zu nehmen – die ausgestellte Brille doch zu einem Menschen wie ihm selbst gehört hat. Oder dass ein Name an der Wand mit den Namen der Tausenden von Kindern, die infolge des Antisemitismus umgekommen sind, der Name eines Kindes in seinem Alter sein könnte.

Der Besuch einer KZ-Gedenkstätte könnte unter den richtigen Bedingungen ein wichtiges Element zur Verhinderung von Antisemitismus sein, aber nur eines von vielen anderen.

Ib Katznelson ist Wirtschaftswissenschaftler in Kopenhagen. Er hat als Kind die Schoa überlebt und darüber ein Buch geschrieben: »Lad ham dø - 2-årig i Ravensbrück og Theresienstadt«. Es wurde ins Englische übersetzt unter dem Titel »Let Him Go: A Danish Child in Ravensbruck and Theresienstadt«. Eine deutsche Übersetzung des Buches gibt es bislang noch nicht.

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