Frau Ur, die Bundesregierung wird Yad Vashem für weitere zehn Jahre fördern. Was bedeutet das für die Erinnerungsarbeit?
Es zeigt, wie stark die deutsch-israelischen Beziehungen sind. Wir haben lange daran gearbeitet, diesen Vertrag zu sichern. Er ist unsere Lebensgrundlage, und wir brauchen ihn, um unsere Forschungsarbeit in Jerusalem zu fördern. Für Yad Vashem ist das absolut notwendig.
Yad Vashem hat das Gedenken zum Jom Haschoa online übertragen. Wird die Jerusalemer Gedenkstätte auch zukünftig mehr aufs Digitale setzen?
Ich denke schon. Diese Situation allerdings kam für alle sehr überraschend. Ich bin beeindruckt, wie schnell Yad Vashem darauf reagiert hat. Wir haben eine unglaublich professionelle IT-Abteilung – bedingt durch die Masse an Informationen, mit der wir ohnehin umgehen. Für alle, die nicht reisen können, ist es großartig, und vielleicht finden wir dadurch auch ein ganz neues Publikum.
Den Besuch der Gedenkstätte können Online-Übertragungen schwer ersetzen.
Durch die Online-Arbeit kann den Menschen aber genau dieser Ort nähergebracht werden. Vielleicht baut sie Brücken, die Menschen, die nicht nach Israel kommen können, brauchen, um sich mit dem Thema auseinanderzusetzen – gerade auch in einer Atmosphäre wie dem eigenen Zuhause. Das kann sehr stark wirken. Meine Ambition ist es, dass jeder den Namen Yad Vashem kennt. Das ist nicht so einfach.
Wie intensiv ist der Austausch mit Schoa-Überlebenden gerade jetzt?
Ich bin in regelmäßigem Kontakt, erkundige mich, wie es den Menschen geht. Und ich lerne auch von ihnen, wie man durch schwierige Zeiten kommt. Resilienz und Solidarität haben in diesem Jahr eine ganz andere Bedeutung als 2019.
Wie betrachten Sie aus Sicht der Gedenkstätte die aktuelle Entwicklung antisemitischer Einstellungen und Straftaten?
Es zeigt, wie notwendig unsere Arbeit, aber auch die der verschiedenen Gedenkstätten hier in Deutschland ist. Bislang wurde viel getan, aber wir brauchen neue Ideen, um jüngere Menschen anzusprechen und ältere Leute zu erreichen. Yad Vashem unterscheidet sich sehr von anderen Institutionen. Wir sind keine Universität, kein Museum, keine Schule, aber doch alles zusammen.
Was ist die größte Herausforderung?
Der Kampf gegen das Vergessen. Der Holocaust war ein Ereignis ohne Parallele. Sich an das Geschehene zu erinnern und über Ursprünge, Art und Weise, wie es geschehen konnte, zu lernen, ist die einzige Sicherheit, die wir haben, dass sich so etwas nicht wiederholt. Wir müssen vor allem diejenigen erreichen, die glauben, »alles« zu wissen, oder glauben, dass es für sie nicht relevant ist. Der Holocaust ist ein Problem der ganzen Menschheit, nicht nur der Juden.
Ende Januar wurde in Essen die Ausstellung »Survivors - Faces of Life after the Holocaust« eröffnet. Wie blicken Sie auf diese Ausstellung zurück?
Für mich war das Beeindruckende, dass der Fotograf Martin Schoeller mit einer ganz frischen Perspektive an das Projekt ging. Er fotografiert sonst eher Politiker, Prominente aus dem kulturellen Bereich. Und diese Frische spürt man an seinen Bildern. Ich kann sie mir stundenlang ansehen. Sie sind fast wie Ölgemälde. Sie haben eine Stimme, eine Präsenz und eine Kraft, die sehr stark wirkt. Man bekommt nur diese kurze Information zu der Person und blickt dann in ihr Gesicht, das Resilienz ausstrahlt, und dann ist es wie ein Schlag in den Magen.
Sie sind seit Juli 2019 Geschäftsführerin des deutschen Freundeskreise s von Yad Vashem. Welche Schwerpunkt möchten Sie in Ihrer Arbeit setzen?
Mir ist wichtig, die Beziehung zwischen den deutschsprachigen Ländern und Yad Vashem zu intensivieren. Ich möchte, dass jede und jeder in Deutschland weiß, was Yad Vashem bedeutet, und weiß, dass es unseren Freundeskreis gibt. Ich möchte unsere Anzahl der Mitglieder verdoppeln, besser noch verdreifachen. Gemeinsam mit unseren Kollegen in Israel haben wir ein Online-Kurse und Seminare in Yad Vashem für Redakteure, Young Leaders und anderer Personengruppen aus Deutschland entwickelt. Unser deutschsprachiges Angebot wächst stetig, und damit erreichen wir immer mehr Leute. Außerdem liegt mir am Herz, dass mehr Juden aus der Diaspora Deutschland besuchen – besonders diejenigen, die noch nie hier waren. Ich würde mir wünschen, sie könnten die Erinnerungskultur in Deutschland erleben und erfahren, wie dieses Land mit seiner schwierigen Geschichte umgeht. Der Rede, die der Bundespräsidenten beim 5. World Holocaust Forum in Yad Vashem gehalten hat, war für viele Israelis und Juden weltweit – und für mich persönlich – ein wichtiger Moment
Mit der Geschäftsführerin des Freundeskreises Yad Vashem in Deutschland sprach Katrin Richter.