Richter mit NS-Vergangenheit hatten noch bis in die 60er-Jahre das Sagen an den Sozialgerichten in Nordrhein-Westfalen. Laut einer Studie der Bochumer Dokumentations- und Forschungsstelle der Sozialversicherungsträger (sv:dok) waren von 169 Sozialrichtern »29 mehr oder minder belastet« und trotz ihrer NS-Vergangenheit wieder im Justizdienst untergekommen.
kontinuitäten Das seien mehr, »als dies angesichts des Forschungsstands zur NS-Belastung in der westdeutschen Justiz zu erwarten stand«, urteilt der Leiter des sv:dok, Marc von Miquel. Die Forschungsstelle hat im Auftrag des Justizministeriums die »personellen Kontinuitäten unter den Sozialrichtern in den Nachkriegsjahren« untersucht.
Die Haltung dieser Juristen sei, so räumte NRW-Justizminister Thomas Kutschaty (SPD) ein, »zwangsläufig« nicht ohne Einfluss auf die Rechtsprechung der Sozialgerichte im Land geblieben: NS-Unrecht wurde verharmlost.
Der Fall Horst Neubauer gehört zu den bekannteren Fällen. Der ehemalige Senatspräsident des Landessozialgerichts in Essen hatte als NS-Richter 96 Todesurteile unterzeichnet. Eine Polin ließ er 1942 wegen Diebstahls hinrichten, einen Polen nach einem »Streit mit einem Volksdeutschen«.
auschwitz Weitgehend unbekannt ist dagegen die Karriere von Friedrich Caliebe. Nach der Besetzung des »Sudetengebiets« baute er dort die Gerichtsbarkeit auf. Später war er als Landgerichtspräsident von Oppeln auch für das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau zuständig. »Er trug nicht zuletzt die Verantwortung für die drakonischen Strafen und Todesurteile gegenüber der polnischen Bevölkerung«, resümiert von Miquel.
Nach 1945 tauchte Caliebe im Sauerland ab. Als 1954 in NRW die rechtlichen Voraussetzungen für die Unterbringung ehemaliger Reichsbeamter geschaffen waren, »wandte sich der umtriebige Jurist wieder seiner eigentlichen Leidenschaft zu, der Justiz«, erklärt von Miquel. Widerstände gegen seine Berufung ans Sozialgericht Köln umschiffte er mithilfe von Seilschaften ehemaliger NS-Juristen. Gegenseitig stellten sich die Herrschaften Persilscheine aus.
standessolidarität Möglicherweise sei die eine oder andere Karriere verzögert worden, glaubt der sv:doc-Leiter, jedoch: »Nachteile ergaben sich daraus aber nur in Ausnahmefällen.« Unter Rechtspolitikern in Bund und Ländern habe eine »Standessolidarität auch mit erheblich belasteten Richtern« gegolten.
Zuletzt war die NRW-Sozialgerichtsbarkeit mit einem Disziplinarverfahren gegen den Essener Richter Robert von Renesse aufgefallen. Renesse hatte sich dafür eingesetzt, dass frühere Arbeiter in NS-Ghettos ihre Renten erhielten. Unter anderem wegen Verunglimpfung von Kollegen musste er sich vor dem Richterdienstgericht in Düsseldorf verantworten. Das Verfahren endete im September 2016 mit einer Einigung.