Hilde Berger hat überlebt. Ihre Leidensgeschichte wurde durch Steven Spielbergs Film »Schindlers Liste« weltbekannt. Berger, 1914 als zweites Kind eines aus Polen stammenden Schneiders in Berlin geboren, wurde 1939 von dort als »unerwünschte Ausländerin« nach Polen abgeschoben. Hier lebte sie mit ihren Eltern in Boryslaw (nahe der ukrainischen Grenze).
Nach eigenen Angaben verließ sie den Ort bewusst auch nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion und die von ihr besetzten polnischen Gebiete im Juni 1941 nicht, da sie sich wegen ihrer Vergangenheit als Trotzkistin vor den Sowjets mehr fürchtete als vor den Nazis. Sie musste Zwangsarbeit in der deutschen Ölindustrie leisten und war eine Zeitlang die inoffizielle Sekretärin von Berthold Beitz, der nach dem Krieg Generalbevollmächtigter der Firma Krupp wurde.
OSKAR SCHINDLER Später deportierte man sie ins KZ Plaszow bei Krakau. Die in der Nähe befindliche Firma Oskar Schindlers sollte mit Maschinen und Arbeitern ins tschechische Brünnlitz verlagert werden. Berger wurde beauftragt, die Transportliste zu tippen. Dabei gelang es ihr, die Namen einiger ihrer Freunde und ihren eigenen auf die Liste zu setzen. Nach einem beklemmenden etwa vierwöchigen Zwischenaufenthalt in Auschwitz kam Hilde Berger mit ihren Kameraden in Brünnlitz an, wo sie im Mai 1945 die Befreiung erlebte. Später emigrierte sie in die USA, wo sie 2011 im Alter von 97 Jahren starb.
Diesen Teil der Lebensgeschichte Bergers kennen dank Spielberg viele. Doch wenige wissen, dass sie bereits in Deutschland in Gefängnissen und Zuchthäusern inhaftiert war. Berger hatte sich als junge Frau nach intensiven Kontakten mit verschiedenen linken politischen Gruppen entschieden, den trotzkistischen Widerstand gegen den Nationalsozialismus zu unterstützen.
Sie diskutierte, tippte und vervielfältigte entsprechende Materialien. Im November 1936 wurde sie verhaftet, ein Jahr später verurteilte sie das Kammergericht Berlin wegen »Vorbereitung zum Hochverrat« zu 30 Monaten Zuchthaus. Nach Haftstationen in Jauer (Schlesien) und Ziegenhain bei Kassel kam sie am 15. März 1939 ins Cottbuser Frauenzuchthaus, wo sie bis zu ihrer Entlassung am 6. Mai blieb. Berger reiste anschließend nach Berlin zurück, von wo sie abgeschoben wurde.
Der breiten Öffentlichkeit sind die Gefängnisse und Zuchthäuser der Justiz als Orte der NS-Verfolgung kaum bekannt.
Generell sind der breiten Öffentlichkeit die Gefängnisse und Zuchthäuser der Justiz als Orte der nationalsozialistischen Verfolgung politischer Gegner und »rassisch Fremder« kaum bekannt. Jenseits der monströsen von Polizei und SS betriebenen Konzentrations- und Vernichtungslager blieb kaum Raum für die Erinnerung an das weniger »spektakuläre« Leiden der Justizgefangenen.
Doch auch deren Schicksale sollten nicht in Vergessenheit geraten. Hier sollen die Biografien einiger jüdischer Frauen vorgestellt werden, die zwischen 1937 und 1943 im Frauengefängnis (ab 1939 Frauenzuchthaus) Cottbus inhaftiert, das eine bedeutende Rolle für den Großraum Berlin spielte. Fast alle überlebten ihre Haft in Cottbus, die meisten starben aber später in Auschwitz.
Juden waren – wie überall in der nationalsozialistischen Gesellschaft – auch im Strafvollzug die am stärksten diskriminierte Gruppe. Obgleich ursprünglich keine der hier vorgestellten Frauen primär aus rassischen Gründen inhaftiert wurde, spielte die rassistische Zuschreibung durch die Justiz schon bei den Urteilen, erst recht aber für die Zeit nach der Strafhaft eine zentrale Rolle.
Anfang 1943 wurde generell bestimmt, dass Juden, die den Strafvollzug durchlaufen hatten, anschließend »dem Konzentrationslager Auschwitz bzw. Lublin zuzuführen« seien. Die potenzielle Überstellung an die Polizei und später in ein KZ hing aber auch schon vor Kriegsbeginn wie ein Damoklesschwert über den eigentlich aus der Haft zu entlassenden Jüdinnen. Kurz vor Ende des Krieges wurden Juden sogar schon vor Ablauf ihrer Strafen in Konzentrationslager deportiert.
»HOCHVERRAT« Die 1916 in Berlin geborene Alice Michelson stammte aus einer bürgerlichen jüdischen Familie. 1935 wegen Aktivitäten in der Kommunistischen Jugend verhaftet, wurde Michelson wegen »Vorbereitung zum Hochverrat« zu dreieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt, die sie vorwiegend in der Berliner Barnimstraße verbüßte. 1938 kam sie zwischenzeitlich für ein halbes Jahr in das Frauengefängnis Cottbus. Dort war Michelson zunächst in einem Feldkommando bei der Kartoffelernte tätig, die Aufseherin habe sie ausdrücklich gebeten, nicht zu fliehen.
Juden waren wie überall in der nationalsozialistischen Gesellschaft auch im Strafvollzug die am stärksten diskriminierte Gruppe.
Später zog man sie – angeblich zum »Schutz vor der Bevölkerung« – als Jüdin von der Außenarbeit ab, nunmehr wurde sie im Gefängnisgarten beschäftigt. Kurz nach der Zurückverlegung nach Berlin wurde sie entlassen und entkam wenig später nach Großbritannien. Dort verlor sie 1940/41 wiederum ihre Freiheit: sie war als »feindliche Ausländerin« auf der Isle of Man interniert. 1947 kehrte sie nach Deutschland zurück und arbeitete u.a. als Direktorin einer DDR-Volkshochschule.
KGB Vermutlich seit den achtziger Jahren war sie für den sowjetischen Geheimdienst KGB aktiv. Im Oktober 1984 wurde sie vom FBI auf dem New Yorker Kennedy-Flughafen verhaftet. In ihrem Gepäck befanden sich militärische Informationen. Michelson wurde zu zehn Jahren Haft verurteilt und musste so zum dritten Mal in ihrem Leben für längere Zeit in Gewahrsam. Am 11. Juni 1985 war sie dann eine der Protagonistinnen des wohl größten Agentenaustauschs des Kalten Krieges, als auf der Glienicker Brücke zwischen Potsdam und West-Berlin 25 CIA-Agenten gegen vier Ost-Spione getauscht wurden. Michelson starb 2012 in Berlin.
Auch »unpolitische« Jüdinnen waren in Cottbus inhaftiert. Die 1907 in Berlin geborene Elsbeth Bober wurde im September 1937 vom Amtsgericht Berlin wegen Beleidigung zu 9 Monaten Gefängnis verurteilt. In der Urteilsbegründung hieß es: »Die Angeklagte ist Jüdin. Ihre Ehe mit dem deutschblütigen Arbeiter B. ist geschieden. … Sie selbst und … vier Kinder werden seit Jahren aus öffentlichen Mitteln unterstützt.« Bei einem Kontrollbesuch durch eine Fürsorgerin habe diese der Angeklagten Vorhaltungen wegen des angeblich unordentlichen und unsauberen Zustands der Wohnung gemacht. Daraufhin habe Bober die Beamtin aus der Wohnung gedrängt, … und »ihr mehrere Schläge mit der Hand auf den Unterarm« versetzt.
Auch »unpolitische« Jüdinnen wurden in Cottbus inhaftiert.
Einige Wochen später trafen sich die beiden Frauen auf der Straße. »Bei der Begegnung rief die Angeklagte der Fürsorgerin laut zu: ›Die müsste man doch!‹ Dabei machte sie eine Schlagbewegung. ... Bei der Strafzumessung wurde berücksichtigt, dass die Angeklagte als Jüdin sich nicht entblödet hat, gegen eine pflichttreue deutsche Beamtin gröbliche Ausschreitungen zu begehen.« Bober verbüßte ihre Strafe im Cottbuser Frauengefängnis. Anschließend wurde sie an die Polizei übergeben. Ihr weiterer Leidensweg ist - abgesehen von seinem Ende - nicht bekannt: Sie starb 1943 in Auschwitz.
Die 1902 in Cottbus geborene jüdische Schneiderin Gertrud Levy war mit den drei jüdischen Schwestern Berta, Marta und Lina Teichler befreundet, die 1938 nach Polen abgeschoben worden. Gertrud Levy hatte wohl versucht, ihnen Kleidung und Geld nachzuschicken, was im Januar 1939 zu ihrer Verhaftung unter dem Vorwurf eines »Devisenvergehen« führte – sie kam in das Frauengefängnis in Untersuchungshaft. Bereits vorher litt sie unter Rückenproblemen und einer Herzkrankheit. Levys Anwalt beantragte vergeblich eine Untersuchung seiner Mandantin auf Haftfähigkeit. Am 25. März 1939, wenige Tage nach dem Bescheid über die Eröffnung des Hauptverfahrens, erhängte sich Gertrud Levy.
HERBERT-BAUM-GRUPPE Ein tragisches Schicksal erlitt auch die 1922 in Berlin geborene Edith Fraenkel. Ab 1940 musste sie als Jüdin Zwangsarbeit bei Siemens-Schuckert in Berlin-Spandau leisten. Dort lernte sie Herbert Baum und seine Frau Marianne kennen und freundete sich mit ihnen an. In deren Wohnung traf sie viele Menschen, die sich gegen den Nationalsozialismus stellten. Sie selbst wurde aber als eher unpolitisch beschrieben. Am 8. Juli 1942 wurde Edith Fraenkel verhaftet. Man warf ihr die angebliche Mitgliedschaft in der Widerstandsgruppe um Herbert Baum vor. Mitglieder dieses Kreises hatten versucht, einen Brandanschlag auf eine antisowjetische Ausstellung zu verüben.
Da man ihr keine direkte Beteiligung daran nachweisen konnte, verurteilte der Volksgerichtshof Edith Fraenkel zu fünf Jahren Zuchthaus wegen »Nichtanzeige eines Vorhabens des Hochverrats«, während viele andere Akteure zum Tode verurteilt wurden. Für alle Angeklagten galt aus Sicht der NS-Juristen: »Die an sich ehrlose Handlungsweise der Angeklagten konnte die Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte nicht zur Folge haben, weil sie diese als Juden nicht besitzen.«
Am 8. Januar 1943 kam Fraenkel zusammen mit den im gleichen Prozess verurteilten Alice Hirsch und Lotte Rotholz nach Cottbus. Dort waren sie in einer gemeinsamen Zelle untergebracht, in der sich auch eine Stanzmaschine befand. Am 12. Oktober 1943 übergab die Justiz Edith Fraenkel zusammen mit anderen Jüdinnen an die Gestapo, die sie in das als »Sammellager« missbrauchte ehemalige jüdische Altersheim in der Großen Hamburger Straße in Berlin brachte.
Von dort wurde Fraenkel nach Theresienstadt deportiert und im Oktober 1944 weiter nach Auschwitz verschleppt, wo sie umkam. Ihr genaues Todesdatum ist unbekannt. Ihre zwei Cottbuser Zellengenossinnen wurden bereits im Oktober 1943 direkt nach Auschwitz deportiert, auch ihr Todesdatum liegt im Dunkeln. Eine vierte jüdische Gefangene aus dem Umfeld um Herbert Baum, Rita Meyer (später Zocher), die zeitweise ebenfalls in der erwähnten Zelle saß, überlebte als einzige der ehemaligen Cottbuser Häftlinge in der »Judenzelle«. Sie durchlitt weitere Haftstationen in Auschwitz, Ravensbrück und Malchow. Nach ihrer Befreiung lebte Zocher in der DDR, sie starb 1982.
Der Autor ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Gedenkstätte Zuchthaus Cottbus.
Im 1860 in Betrieb genommenen »Königlichen Zentralgefängnis Cottbus« in der Niederlausitz bildeten weibliche Häftlinge jahrzehntelang eine kleine Minderheit. Ab 1930 bestand hier eines der größten Jugendgefängnisse in Deutschland. Während des Nationalsozialismus betrieb die preußische Justiz in Cottbus dann ab Mitte 1937 ein Frauengefängnis, das Anfang 1939 in ein Frauenzuchthaus umgewandelt wurde. Mit »Zuchthaus« Bestrafte erwarteten noch härtere Bedingungen bezüglich Unterkunft, Arbeit und Verpflegung als die zu »Gefängnis« Verurteilten. Dennoch waren die Überlebenschancen im Allgemeinen weitaus größer als in den Konzentrationslagern. Auch die DDR nutzte die Haftanstalt zur Verfolgung politischer Gegner, es wurden vor allem ausreisewillige Männer inhaftiert. Heute betreibt das »Menschenrechtszentrum Cottbus e.V.« – ein überwiegend von ehemaligen politischen Häftlingen der DDR getragener Verein – auf dem Gelände die »Gedenkstätte Zuchthaus Cottbus.«