Die Zahl antisemitischer Vorfälle in Berlin ist im vergangenen Jahr um 14 Prozent gestiegen. Insgesamt wurden 1083 antisemitische Vorfälle im Jahr 2018 in der Bundeshauptstadt erfasst, 132 mehr als im Vorjahr (951), wie die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Berlin (RIAS Berlin) am Mittwoch mitteilte.
Häufiger als in den Jahren davor habe der Antisemitismus dabei verrohte Formen angenommen und sei direkter geworden, sagte RIAS-Projektleiter Benjamin Steinitz. Besorgniserregend sei der deutliche Anstieg der Vorfälle mit besonderem Gefährdungspotenzial für die Betroffenen.
GEWALT Die Anzahl antisemitischer Angriffe erhöhte sich um 155 Prozent von 18 auf 46, die Zahl der Bedrohungen stieg um 77 Prozent von 26 auf 46. Die Bereitschaft, gegen erkennbare Juden, Kritiker antisemitischer Äußerungen oder politische Gegner Gewalt auszuüben, sei erkennbar gestiegen, betonte Steinitz. Diese Entwicklung sei bei vielen Betroffenen bereits alltagsprägend.
Es bleibt unverständlich, warum die Hisbollah bislang in Deutschland nicht verboten ist, kritisiert der Zentralrat.
Von den antisemitischen Vorfällen waren 368 Personen betroffen, 73 Prozent mehr als im Vorjahr. Mit 187 war laut Steinitz über die Hälfte davon jüdisch, doch auch zahlreiche nichtjüdische Personen, die sich gegen Antisemitismus oder Rechtsextremismus aussprachen, wurden angefeindet.
Zudem registrierte die Recherchestelle einen Anstieg bei schriftlichen oder mündlichen Anfeindungen, Propaganda oder Veranstaltungen mit antisemitischen Inhalten. Hier wurden 831 Fälle von sogenanntem verletzenden Verhalten dokumentiert, ein Anstieg von 22 Prozent.
Ein Mann las in der U-Bahn die Zeitung »Jüdische Allgemeine«, woraufhin ihm ein Fahrgast auf die Zeitung schlug.
Als Beispiele nannte RIAS-Projektleiter Benjamin Steinitz einen Mann, dem von Fußballfans aus Mönchengladbach ins Gesicht geschlagen wurde, nachdem er von ihnen als »Du Jude« beschimpft wurde und diese Äußerung kritisiert hatte. Ein Mann las in der U-Bahn die Zeitung »Jüdische Allgemeine«, woraufhin ihm ein Fahrgast auf die Zeitung schlug. Ein Spätkaufverkäufer in Berlin-Neukölln bewarf eine jüdische Frau mit Kronkorken, als er ihren Davidstern-Schlüsselanhänger erblickte und beschimpfte sie als »Judenschlampe«. Eine Gruppe von Personen wurde im April 2018 auf dem Weg zur Demonstration »Berlin trägt Kippa« bespuckt, getreten und mit »Verpisst Euch Ihr Juden« beschimpft.
ZUSTAND Der Zentralrat der Juden in Deutschland hob in einer ersten Stellungnahme die Bedeutung der Erfassung antisemitischer Vorfälle hervor. »Es ist wichtig, dass RIAS auch verletzendes Verhalten erfasst. Dies ist zwar in der Regel nicht strafbar, spiegelt aber den aktuellen Zustand der Gesellschaft wider. Antisemitisches Gedankengut ist weit verbreitet. Die Zahlen zeigen, dass Hemmungen gefallen sind, sich judenfeindlich zu äußern«, sagte Zentralratspräsident Josef Schuster.
Die Politik muss entschiedener reagieren – etwa in der rechtsextremen Szene oder beim Al-Quds-Marsch, betont Zentralratspräsident Schuster.
»Selbst wenn wir einkalkulieren, dass aufgrund einer gestiegenen Sensibilität sowie der gewachsenen Bekanntheit von RIAS mehr Vorfälle gemeldet werden als früher, bestätigt die jüngste RIAS-Statistik den Eindruck, der sich in der jüdischen Gemeinschaft verfestigt hat: Der Antisemitismus in Deutschland nimmt zu«, so Schuster weiter.
VERBOT Schuster nennt die Zunahme antisemitischer tätlicher Angriffe »zutiefst besorgniserregend«. Politische Gegenmaßnahmen müssten vorrangig dort ergriffen werden, wo sich Kristallisationspunkte befinden – in der rechtsextremen Szene sowie bei Veranstaltungen wie dem jährlichen Al-Quds-Marsch, betonte Schuster. »Warum Deutschland sich im Gegensatz zu Großbritannien bislang nicht zu einem Verbot der Hisbollah durchringen konnte, bleibt unverständlich.«
Bundesjustizministerin Katarina Barley erklärte, es sei Aufgabe der gesamten Gesellschaft, jüdisches Leben in Deutschland zu schützen. »Der Hass gegen Juden ist beschämend für unser Land«, sagte die SPD-Politikerin.
Der Antisemitismusbeauftragte der Berliner Jüdischen Gemeinde, Sigmount Königsberg, forderte eine zügigere Klageerhebung bei antisemitischen Vorfällen. Von Politik und Justiz sei zu gewährleisten, dass Juden sich sicher fühlen können, sagte Königsberg. ja/epd