Von 1940 bis 1942 arbeitete der heute 91-jährige Schoa-Überlebende für das deutsche Militär. Er reinigte Wohnungen und Lastkraftwagen. Seit 1939 musste er eine Armbinde mit Davidstern tragen, das Haus durfte er nur verlassen, um arbeiten zu gehen. Da er nicht in einem Ghetto lebte, wurde ihm die Rente nach dem Ghettorentengesetz verweigert.
Er klagte und bekam am 20. Mai vor dem Bundessozialgericht (BSG) recht: Die Bedingungen, unter denen er lebte und arbeitete, »sind denen eines zwangsweisen Aufenthalts in einem Ghetto im Sinne des Paragrafen 1 Absatz 1 Satz 1 ZRBG zumindest im Wege der Analogie gleichzustellen«, teilte das BSG in einer Pressemitteilung nach Verkündung des Urteils mit.
»Es ist ein gutes Urteil«, sagt Günter Jek von der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST). »Allerdings schreiben wir das Jahr 2020. Wenn die deutsche Justiz 75 Jahre nach dem Ende der Schoa zu einem freundlicheren Kurs bei den Ghettorenten kommt, ist das zu begrüßen, kommt aber viele Jahre zu spät.« Nur noch sehr wenige Menschen würden davon noch profitieren.
RECHTSWEG »Die jüngsten Berechtigten sind heute um die 89 Jahre alt.« Abschlägig beschiedene Anträge müssten nun aufgehoben werden. Das aber werde die Deutsche Rentenversicherung nicht tun. Allerdings werden nun nach dem BGS-Urteil Neu- und Überprüfungsanträge »im Lichte der neuen Rechtsprechung des BSG bearbeitet«. Die Antragsteller »müssen nicht den Rechtsweg beschreiten«.
Die Frage dieser Zeitung, wie viele Anträge sie nach dem Ghettorentengesetz erhalten hat, ließ die Deutsche Rentenversicherung unbeantwortet. Seit Inkrafttreten des Gesetzes 2002 seien 67.000 Rentenanträge bewilligt worden.
An 33.000 Männer und Frauen, die in Ghettos arbeiteten, wurden nach Angaben der Versicherung Ende 2018 noch Beträge ausgezahlt. Wie viele abgelehnt wurden, will die Deutsche Rentenversicherung nicht mitteilen.
VERZÖGERUNGSTAKTIK Für Jek hatte die Verzögerungstaktik der Rentenversicherer, der Gerichte und des Gesetzgebers System: »Je länger man wartete, umso weniger hatte man aufzuarbeiten, umso geringer waren die finanziellen Folgen.«
Das sieht auch der ehemalige Grünen-Bundestagsabgeordnete Volker Beck so, der heute am Centrum für Religionswissenschaftliche Studien der Ruhr-Universität Bochum lehrt. »In Deutschland ist man stolz darauf, dass man seine Vergangenheit angeblich so gut aufgearbeitet hat. Am Ende muss man aber sagen: Man hat versucht, die Aufarbeitung möglichst sparsam zu machen.«
Gerade einmal rund 75 Milliarden seien an Entschädigungen seit Bestehen der Bundesrepublik gezahlt worden. »Nicht gerade viel Geld für ein Menschheitsverbrechen«, meint Beck. Die Summe entspreche ungefähr dem Viertel eines Bundeshaushaltes vor Corona oder drei Jahren Beiträge zur Bewältigung der Flüchtlingskrise.
Mit manchen Gruppen wie den Homosexuellen sei jahrelang gestritten worden, ob sie überhaupt Opfer der Nationalsozialisten seien, mit Juden darüber, ob deren Gesundheitsschäden ihren Grund im KZ-Aufenthalt oder in einer natürlichen Veranlagung hätten. »Der Staat«, sagt Beck, »hat um jeden Pfennig gefuchst.«
Die Deutsche Rentenversicherung spielt auch jetzt weiter auf Zeit.
Große Verdienste um die Ghettorentner hat sich der damalige Essener Sozialrichter Robert von Renesse erworben. Von 2006 bis zum Frühjahr 2010 war von Renesse Beisitzer des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen in Essen und als Berichterstatter zuständig für die Rentenzahlungen an Zwangsarbeiter in Ghettos. Zu dieser Zeit waren bereits 96 Prozent der 70.000 Anträge auf Zahlung von Ghettorenten von den Rentenversicherungsträgern abgelehnt worden.
In der »Zeitschrift für Rechtspolitik« schrieb er über die Praxis der deutschen Behörden: »Ihren eigenen Berichten hörte die deutsche Bürokratie – die allein auf ungeeignete Formulare oder alte deutsche Akten vertraute – gar nicht erst persönlich zu und schenkte ihnen auch sonst keinen Glauben.« Von Renesse änderte Verfahren und Umgang, sprach mit den Opfern, recherchierte und reiste nach Israel. In den von ihm geleiteten Verhandlungen bekam weit über die Hälfte der Klagenden schließlich eine Rente zugesprochen.
DISZIPLINARVERFAHREN Doch der Richter zahlte dafür einen hohen persönlichen Preis, wurde von seinen Kollegen am Essener Sozialgericht gemobbt und schließlich von den Fällen, in denen es um Ghettorenten ging, abgezogen.
»Man schränkte«, sagte von Renesse 2012 der Jüdischen Allgemeinen, »meine richterliche Unabhängigkeit ein und griff in meine Persönlichkeitsrechte ein. Ich wurde an meiner Arbeit gehindert und stand unter Druck.«
Das nordrhein-westfälische Justizministerium strengte sogar ein Disziplinarverfahren gegen ihn an, das nach zahlreichen Protesten des damaligen NRW-Justizministers Thomas Kutschaty (SPD) kurz vor Verkündung des Urteils des Richterdienstgerichts zurückgezogen wurde.
Das Urteil des Bundessozialgerichts ist ein Fortschritt, aber es kommt zu spät. Und dass die Deutsche Rentenversicherung nicht von sich aus auf die Menschen zugeht, denen sie die Rente unrechtmäßig verweigert hat, zeigt, dass das Spiel auf Zeit weitergeht. Jeder Antrag kostet Zeit. Und Zeit ist etwas, das die wenigen Überlebenden der Schoa nicht mehr haben.