»Die herrschende Sprache von Gesetz und Ordnung, die von den Gerichtshöfen und der Polizei für gültig erklärt wird, ist nicht nur die Stimme, sondern auch die Tat der Unterdrückung«, schrieb 1969 der vor den Nazis geflohene Philosoph Herbert Marcuse in der deutschen Erstausgabe seines Essays Versuch über die Befreiung.
Das Deutschland seiner Lebenszeit war autoritärer geprägt als das unserer Gegenwart. Waren doch in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik viele alte Nazis, die Täterinnen und Täter weiterhin in wichtigen gesellschaftlichen Positionen vertreten – auch bei der Gesetzgebung. Sie nutzten Gesetze zum Selbstschutz. Sie schufen mit den Straffreiheitsgesetzen die Grundlage dafür, dass bis zum Fall von John Demjanjuk 2009 viele NS-Verbrecherinnen und Verbrecher unbehelligt blieben. Hinzu blieben auch Normen erhalten, die vor 1945 im Sinne der NS-Ideologie verändert wurden. Man denke nur an den Paragrafen 175 StGB und dessen Verschärfung im Jahr 1935. Bis heute wird versucht, diese Kontinuitäten aus dem Recht zu streichen.
Doch nicht alle Gesetze, die auch nach dem militärischen Ende des Nazi-Regimes entstanden sind, sind so einfach zu verorten. Aus unserem heutigen Selbstverständnis als demokratische und pluralistische Gesellschaft passt es nicht, dass im Grundgesetz und in Landesverfassungen von »Rassen« gesprochen wird. Sind diese etwa noch im nationalsozialistischen Jargon verhaftet? Es ist komplizierter. Was heute wie »Stimme« und »Tat der Unterdrückung« klingt, war doch zum Zeitpunkt seiner Entstehung ganz anders gemeint.
»Rasse«-Begriff soll Nazi-Verbrechen verurteilen
Das Wort »Rasse« wurde gewählt, um dem rassistisch-artikulierten Antisemitismus des Nationalsozialismus entschieden zu widersprechen. Wer aber heute von »Rassen« spricht, unterteilt Menschen auf rassistische Art und Weise. Seit dem Mord am Afroamerikaner George Floyd durch den Polizisten Derek Chauvin im Mai 2020 in der US-Stadt Minneapolis hat diese Debatte wieder an Fahrt aufgenommen. Während die Bundesregierung in diesem Jahr erst einmal davon abrückt, in den Text des Grundgesetzes (»Niemand darf wegen […] seiner Rasse […] benachteiligt oder bevorzugt werden.«) einzugreifen, hat das Saarland am 9. Februar eine Änderung der Verfassung beschlossen. Damit folgt man dem Vorbild von Thüringen, Sachsen-Anhalt und Brandenburg, die bereits ihre Verfassung geändert haben.
Die Verfassung des Saarlandes ist, wie auch das Grundgesetz, ein Kind der historischen Gegebenheiten. Und sie wurde in der Erfahrung dessen verfasst, was zu millionenfachem Mord und Zerstörung bisher unbekanntem Ausmaß geführt hatte: dem deutschen Vernichtungskrieg und der Schoa. Artikel 12 Absatz 1 der saarländischen Verfassung (»Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.«) ist auch eine Reaktion auf das Grauen, das von Deutschland ausgegangen ist.
Wenn in Grundgesetz Artikel 3 Absatz 3 und in Artikel 12 Absatz 3 der saarländischen Verfassung von »Rasse« gesprochen wird, dann nicht, weil man das pseudowissenschaftliche »Rasse«-Denken fortsetzen wollte, sondern um die Verfolgung, die aus diesem Denken entstand, zu verurteilen. Man dachte vor allem an die auf dem rassistisch-artikulierten Antisemitismus aufbauende Verfolgung und den industriellen Massenmord an Jüdinnen und Juden. Doch nicht einzelne Artikel, sondern das Grundgesetz in Gänze kann als ein »Gegenentwurf zu dem Totalitarismus des nationalsozialistischen Regimes« begriffen werden, wie es das Bundesverfassungsgericht 2009 in seinem Wunsiedel-Beschluss deutlich machte.
Es gibt einen Unterschied zwischen »Race« und »Rasse«
Heute ist das Wissen um die spezifische Prägung des »Rasse«-Begriffes in den deutschen Diskursen des 19. und 20. Jahrhunderts weitgehend verdrängt. Das hat – abgesehen von Fachdebatten – zu Leerstellen in der Auseinandersetzung geführt. Rasse ist in der deutschen Sprache anders als das englische »Race« – das eher dem deutschen »Ethnie« entspricht – kein kritischer oder neutral beschreibender Begriff. Er wurde richtigerweise mit dem Rassismus gegen Schwarze, slawische und muslimische Menschen wie auch gegen Sinti und Roma in Verbindung gebracht. Seine historische Konnotation lässt sich nicht einfach aus ihm selbst schließen. Antisemitismus und Rassismus sind in ihn eingegossen.
Deutschland ist eine demokratische und pluralistische Gesellschaft, deshalb brauchen wir auch eine symbolpolitische Anerkennung dessen. Doch wenn der Begriff ersetzt wird, kann auch eine Lücke entstehen. Eine (Schutz-)Lücke, die gerade hinsichtlich der massiven Bedrohung von Jüdinnen und Juden einen Schritt in die falsche Richtung darstellt.
Juden waren für die Nationalsozialisten eine »Anti-Rasse«
Diese Gesellschaft ist nicht nur postkolonial, sie ist auch postnazistisch. Und sie tut sich weiterhin schwer mit der Auseinandersetzung mit der Schoa, dem Porajmos, dem Kolonialismus und den Kontinuitäten antisemitischer und rassistischer Gewalt. Ausdruck dessen ist es auch, dass in der Debatte um eine Änderung von Grundgesetz und Landesverfassungen die Prägung des »Rasse«-Begriffs durch Antisemitismus oft in den Hintergrund rückt. Im deutschvölkischen Denken, dessen Linie sich bis in die Gaskammern von Auschwitz zieht, waren Jüdinnen und Juden die »Anti-Rasse«, das »Anti-Volk«. Die größte Bedrohung für die angebliche »Herrenrasse« wurde in diesem Denken im »Jüdischen« erkannt. Ziel war es, alle Menschen, die so markiert wurden, zu vernichten – in Mordfabriken, in Schluchten, durch Arbeit. Sie sollten nicht unterworfen und ausgebeutet, sondern so effizient wie möglich ermordet werden. In dieser antisemitischen Aufladung des »Rasse«-Begriffes findet sich die vollkommene Verneinung von Humanität, indem das »Jüdische« zum Gegenprinzip dessen erklärt wird.
Es ist zu begrüßen, dass die Abgeordneten von SPD und CDU im saarländischen Landtag diese Umstände zumindest insofern anerkannt haben, als sie auch eine Antisemitismus-Klausel einführen wollen. Genaueres dazu scheint noch unklar. Grundsätzlich folgt man der Vorgehensweise in Brandenburg. Bereits 2013 wurde er durch »aus rassistischen Gründen« ersetzt. Es dauert dann aber noch bis ins Jahr 2022, ehe eine erneute Verfassungsänderung stattfand.
Seitdem steht in Artikel 7a, dass man »Antisemitismus, Antiziganismus sowie der Verbreitung rassistischen und fremdenfeindlichen Gedankenguts« entgegentrete und sich für jüdisches Leben einsetzt. Einen anderen Weg ist Berlin mit seinem Landesantidiskriminierungsgesetz (LADG) gegangen. Dort hat man sich für »ethnischen Herkunft, einer rassistischen und antisemitischen Zuschreibung« entschieden. Paragraph 2 LADG ist vielleicht die derzeit beste Wahl. Sie formuliert die Motivation hinter der in den Landesverfassungen und Grundgesetz genutzten Formulierung präzise um – und das ist bekanntlich für die Arbeit mit dem Gesetz am wichtigsten.
Berlin hat die wohl angemessenste Lösung
Auf diese Weise begegnet man angemessen den Sorgen, dass, wenn Antisemitismus aus seinem ursprünglichen Kontext der Verfassung herausgerückt wird, Schutzlücken entstehen. Gerade in einer Zeit, in der Jüdinnen und Juden existenziellen Bedrohungen ausgesetzt sind, darf es nicht dazu kommen. Die massive Verdrängung des Antisemitismus in der deutschen Bevölkerung hat dazu geführt, dass auch der historische Kontext des »Rasse«-Begriffes nicht mehr vielen zugänglich scheint. »Rasse«, das war in der Entstehungsgeschichte von Grundgesetz und saarländischer Landesverfassung die »Stimme« und die »Tat« nicht nur von Unterdrückung, sondern der Vernichtung von Jüdinnen und Juden. In unserer Gegenwart ist sie weiterhin »Stimme« und »Tat« von rassistischer Gewalt und rassistischen Morden.
Man denke allein an die vielen Todesopfer extrem rechter Gewalttaten vor und nach der sogenannten Wiedervereinigung – zu denen sowohl Opfer von Antisemitismus als auch Rassismus zählen. Sucht man nach einer Alternative für den veralteten, im Gesetz verankerten »Rasse«-Begriff, muss diese die aufgezeigte Komplexität in sich tragen. »Rasse« zu ersetzen, ohne dass die ursprüngliche Motivation in gleichem Rang erhalten bleibt, bedeutet, dass die Spuren des einst richtigen Anliegens verschwinden. Nämlich eine Verfassung, die verhindern sollte, dass »Auschwitz noch einmal sei«.