Justiz

Ist der Begriff »Prostitutionslobby« antisemitisch?

Die Hamburger Reeperbahn ist das wohl berühmteste Rotlichtviertel Deutschlands Foto: picture alliance / ABBfoto

Darf man jemandem »strukturellen Antisemitismus« unterstellen, der einem vorwirft, Teil einer »Prostitutionslobby« zu sein? Mit dieser Frage musste sich kürzlich die 27. Zivilkammer des Landgerichts Berlin beschäftigen.

Anlass war eine Klage des Vereins Sisters, der sich durch den Vorwurf des Antisemitismus diffamiert sah. Sisters hilft eigenen Angaben zufolge Zwangsprostituierten und setzt sich für den Ausstieg von Frauen aus der Prostitution ein.

Bei einem öffentlichen Vortrag in Berlin im Mai 2023 suggerierte die Aktivistin Ruby Rebelde, die selbst in der Sexarbeit tätig ist, Organisationen wie Sisters, aber auch die Frauenzeitschrift »EMMA«, seien »strukturell antisemitisch«. Zur Begründung sagte Rebelde, die Gegnerinnen hätten von einer angeblichen »Prostitutionslobby« gesprochen, die in Deutschland verhindere, dass die Prostitution zurückgedrängt werde. Dieser Begriff stamme aus der Welt »antisemitischer Verschwörungstheorien«, so die Aktivistin, die auch im Vorstand der Berliner Selbsthilfeorganisation Hydra sitzt.

Ist der Vorwurf der »Prostitutionslobby« Teil einer Verschwörungstheorie?

Sisters sah sich zu Unrecht diffamiert und reichte eine Klage auf Unterlassung ein. Die Bezeichnung »antisemitisch« sei unter Berücksichtigung des Kontexts für einen Zuhörer nur so zu verstehen, dass man judenfeindlich eingestellt sei, so die Argumentation des Vereins. Auch der Zusatz »strukturell« ändere daran nichts. Es gebe keine Ansatzpunkte für ein judenfeindliches Verhalten oder das Verbreiten von »antisemitischen Verschwörungstheorien« seitens der Vereinsmitglieder, auch wenn man in der Vergangenheit gelegentlich das Wort »Prostitutionslobby« verwendet habe.

Rebelde wiederum betonte, sie habe »die erwähnten Gruppierungen ausdrücklich nicht als Antisemit*innen« bezeichnet, sondern lediglich festgestellt, dass sie strukturell antisemitische Verschwörungserzählungen nutzten. Dieser Begriff sei vordergründig keineswegs gegen Juden gerichtet, argumentierte sie. Da Sisters Begriffe wie »Lobby der Prostitutionsindustrie«, »Prostitutions-Lobby«, »Lobbyisten der Prostitutionswirtschaft« oder »Prostitutions-Lügenlobby« verwende, dürfe seine Argumentation als strukturell antisemitisch bezeichnet werden.

Bereits zum zweiten Mal musste sich das Landgericht Berlin nun mit dem Fall befassen. In einer einstweiligen Verfügung hatte eine andere Kammer 2023 die Verwendung des Attributs »strukturell antisemitisch« untersagt und der Klage von Sisters stattgegeben. Allerdings war die Anordnung später vom Kammergericht Berlin wieder kassiert worden.

Nun wies der Richter am Landgericht die Klage des Vereins ab und gab Rebelde in der Sache Recht. Zur Begründung sagte er, es handele sich nicht um eine reine Tatsachenbehauptung, sondern zumindest in Teilen um eine Meinungsäußerung, die in den Schutzbereich des Artikels 5 des Grundgesetzes falle.

Gegnerinnen von Prostitution fordern ein SexkaufverbotFoto: IMAGO/Nikito

Ein Grundrechtsschutz bestehe deshalb »unabhängig davon, ob die Äußerung rational oder emotional, begründet oder grundlos ist und ob sie von anderen für nützlich oder schädlich, wertvoll oder wertlos gehalten wird«. Zwar könnten Meinungsäußerungen dennoch als unzulässig einzuordnen sein, zum Beispiel, wenn sie in übermäßiger Art und Weise den sozialen Geltungsanspruch oder die Ehre des anderen verletzten, so der Richter. Es mache aber einen Unterschied, ob es sich bei der Einschätzung von Beweggründen um eine auf Tatsachen fußende Schlussfolgerung handele oder um eine willkürlich aus der Luft gegriffene Wertung.

»Kritik weist Sachbezug auf«

Im vorliegenden Fall müsse die Klägerin die Bezeichnung als »strukturell antisemitisch« aber hinnehmen, schlussfolgerte das Gericht. Auch wenn der Begriff »antisemitisch« in der Regel »judenfeindlich« bedeute, sei entscheidend, dass er mit dem Vorsatz »strukturell« versehen worden sei. Darunter verstehe ein »verständiger Durchschnittsrezipient«, dass nicht die Person selbst antisemitisch sei, sondern ihre Methoden, denn sonst, argumentierte der Richter, bräuchte es ja den Zusatz »strukturell« nicht. »Vielmehr sind diese Methoden ihrer Struktur, also dem, was ihnen zugrunde liegt, antisemitisch, sie weisen also eine mit dem Antisemitismus vergleichbare Struktur auf.«

Dass dies ihrer Ansicht nach auf Sisters und andere Befürworter des Sexkaufverbots zutrifft, habe Rebelde in ihrem Vortrag ausreichend begründet. »Diese Kritik mag scharf sein, sie weist aber Sachbezug auf und fußt auf einer hinreichenden tatsächlichen Grundlage«, so das Landgericht.

Aus der Sicht eines »verständigen Durchschnittslesers« werde dem Kläger jedoch kein Judenhass oder antisemitische Einstellungen vorgeworfen, auch wenn man, so der Richter in der Begründung, »nicht verkennen« wolle, »dass der Vorwurf des Antisemitismus insbesondere in Deutschland schwer wirkt«. Solange es sich aber nicht um Schmähkritik handele, müsse der Verein die Kritik hinnehmen - selbst dann, wenn er sie als überzogen oder polemisch empfinde.

Gegenüber der Zeitung »Welt« beharrte eine Sprecherin von Sisters darauf, dass die von Rebelde erhobenen Vorwürfe »unhaltbar und rufschädigend« seien. »Besonders perfide ist der Versuch, uns mit dem schwerwiegenden Vorwurf des Antisemitismus zu belegen, um uns öffentlich zu delegitimieren und potenzielle Spenderinnen und Spender abzuschrecken.«

Sisters-Anwalt Jonas Jacob sagte gegenüber »Welt«: »Selbstverständlich hat der Begriff ›strukturell antisemitisch‹ für den unbefangenen Dritten ebenso mit Judenfeindlichkeit zu tun wie der Begriff ›antisemitisch‹. Die Differenzierung, die das Gericht hier vornimmt, erscheint konstruiert und steht im Widerspruch zur gängigen Sprach- und Rechtsauffassung.«

Auch Rebelde meldete sich zu Wort und postete auf ihrem Instagram-Profil ein Statement. Ihrer Ansicht nach demonstrieren Sisters e.V. mit der Klage gegen sie eine »wilde Entschlossenheit, gegen alle Vernunft und nun auch Rechtsprechung an der aggressiven Diffamierung von Sexarbeitenden festzuhalten«.

Streit um Sexkaufverbot

Der Verein Sisters wird von einer Sozialarbeiterin, einer Politikerin (der SPD-Bundestagsabgeordneten Leni Breymaier), einer Gewerkschafterin, zwei Journalistinnen, einer Psychologin sowie einer ehemaligen Prostituierten geführt. Mit seiner Kampagne »RotlichtAus«, die auch von »EMMA« und der katholischen Diözese Rottenburg-Stuttgart unterstützt wird, will der Verein erreichen, dass auch in Deutschland ein »Sexkaufverbot« eingeführt wird. Demnach soll nicht die Prostitution an sich verboten werden, es künftig aber Freiern bei Strafe verboten sein, sexuelle Dienstleistungen zu kaufen.

Lesen Sie auch

Dieses sogenannte Nordische Modell wurde erstmals 1999 in Schweden eingeführt und gilt seit einiger Zeit auch in Ländern wie Israel und Frankreich. In Deutschland ist die Prostitution weiter vollständig legal;  schätzungsweise 400.000 Prostituierte arbeiten hierzulande. Viele von ihnen stammen aus dem Ausland und leben in prekären Verhältnissen. Für Kritiker wie die stellvertretende Unionsfraktionsvorsitzende im Bundestag Dorothee Bär ist die Bundesrepublik deswegen mittlerweile das »Bordell Europas«.

Gegner eines Sexkaufsverbots, darunter auch Interessenverbände von Sexarbeiterinnen, bezweifeln jedoch seine Wirksamkeit im Kampf gegen Zwangsprostitution und die Ausbeutung von Frauen und halten es für einen nicht tragbaren Eingriff in die Freiheit der Berufsausübung.

Holocaust

Eklat um Wort »Genozid« bei Buchenwald-Gedenken

Bei einer Gedenkveranstaltung zur Befreiung des KZ Buchenwalds löst eine junge Teilnehmerin mit einer Aussage Buh-Rufe aus. Der Gedenkstättenleiter ist um Entschärfung bemüht

 06.04.2025

Thüringen

Wulff kritisiert AfD bei Gedenken an Buchenwald-Befreiung

Jene, die glaubten, man könne die AfD entzaubern durch Einbindung, lägen falsch, betonte der Bundespräsident a.D.

 06.04.2025

Josef Schuster

»Es muss sich etwas ändern in Deutschland«

Der Zentralratspräsident drängt die neue Bundesregierung, das teils beschädigte Verhältnis zur jüdischen Gemeinschaft zu reparieren

 06.04.2025

Weißes Haus

Trump will Netanjahu am Montag erneut empfangen

Der Präsident der USA gilt als enger Verbündeter des israelischen Ministerpräsidenten

 06.04.2025 Aktualisiert

Debatte

Warum wir Juden in Thüringen die Absage an Omri Boehm richtig finden

Ein Kommentar von Reinhard Schramm, Vorsitzender der Jüdischen Landesgemeinde Thüringen

von Reinhard Schramm  05.04.2025

Berlin

Israels Botschafter bekräftigt scharfe Kritik an Omri Boehm und an seiner Einladung

»Ich bin stolz darauf, einem Gedenken an die Schoa, das das Leid der Überlebenden relativiert oder den Staat Israel in Frage stellt, die rote Karte zu zeigen«, betont Prosor

 05.04.2025 Aktualisiert

Debatte

Boris Becker äußert sich zu seinem viel kritisierten Hitler-Tweet

Becker war einst als Tennisstar eine Legende, auch danach produzierte er noch viele Schlagzeilen. Nun sorgte ein Post zu Hitler für viel Aufregung

von Elke Richter  04.04.2025

Halle

Klein warnt vor Normalisierung judenfeindlicher Gewalt

Israel liegt rund 3000 Kilometer entfernt. Trotzdem werden Juden in Deutschland für die Gewalt im Nahen Osten verantwortlich gemacht. Ein gängiges antisemitisches Muster, kritisiert der Antisemitismus-Beauftragte

 04.04.2025

Kommentar

Hamas plante schon 2021 den »Tag danach«

Die Hamas und ihr Traum von der Einstaatenlösung ist lange vor dem 7. Oktober entstanden. Der Westen schwieg und Netanjahu schwieg, ein Fehler mit unerträglichen Konsequenzen

von Nicole Dreyfus  04.04.2025