Pro und Contra

Ist das der Riss in der Brandmauer?

Ein Wahlplakat der AfD vor einem Bild von CDU-Kanzlerkandidat Friedrich Merz Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS

Pro: Dieser Weg führt zu einer Koalition mit der AfD, meint Joshua Schultheis

Zu jubeln hat in diesen Tagen nur eine Partei – die AfD. Das Ende der »rot-grünen Dominanz« sei da, triumphierte am Mittwochabend der parlamentarische Geschäftsführer der AfD-Fraktion, Bernd Baumann. Seine Partei hatte gerade einen bedeutenden Erfolg erzielt. Zum ersten Mal in der bundesdeutschen Geschichte fand ein Antrag mithilfe der Stimmen einer rechtsextremen Kraft eine Mehrheit im Bundestag.

Am Freitag wäre auf die Premiere beinahe die Wiederholung gefolgt: Ein Gesetz zur Begrenzung der Migration scheiterte nur knapp, weil einige Abgeordnete von CDU/CSU und FDP der Abstimmung ferngeblieben waren. An den Stimmen der AfD hatte es nicht gelegen.

Antrag und Gesetz für eine schärfere Asylpolitik hatte die CDU/CSU eingebracht. Doch in den Rängen der Unionsfraktion herrschte am Mittwoch im Bundestag betretenes Schweigen. »Jetzt beginnt etwas Neues«, rief ihnen AfD-Politiker Baumann zu. »Sie können folgen, Herr Merz, wenn Sie noch die Kraft dazu haben.«

Besagter Herr Merz, Kanzlerkandidat der Union, trat ziemlich kleinlaut ans Mikrofon. »Ich suche in diesem Bundestag keine anderen Mehrheiten als die in der demokratischen Mitte unseres Parlaments«, sagte Friedrich Merz entschuldigend. »Und wenn es hier heute eine solche Mehrheit gegeben hat, dann bedaure ich das.«

Nach der Abstimmung trat Kanzlerkandidat Friedrich Merz ziemlich kleinlaut ans Mikrofon.

Wahrlich, es ist bedauerlich, was Merz mit seinem politischen Vabanque-Spiel angerichtet hat. Die AfD hat nämlich allen Grund zu frohlocken: Nicht nur hat die – auch von Merz selbst viel beschworene – Brandmauer der Union nach Rechtsaußen einen Riss bekommen. Die Ereignisse dieser parlamentarischen Woche könnten das Drehbuch werden, nach dem die AfD in der Zukunft einmal an die Macht gelangt.  

Wie konnte es so weit kommen? Noch im November versprach Merz, nach dem Ende der Ampel-Koalition bis zur nächsten Wahl nur Anträge in den Bundestag einzubringen, über die sich die Union zuvor mit SPD und Grünen geeinigt hätte. Er wolle verhindern, dass »auch nur ein einziges Mal eine zufällige oder tatsächlich herbeigeführte Mehrheit mit denen da zustande kommt«, sagte Merz, mit dem Finger auf die AfD-Fraktion zeigend. Wer hätte zu diesem Zeitpunkt am Wort des Kanzlerkandidaten zweifeln wollen?

Dann kam die schreckliche Tat von Aschaffenburg. Der willkürliche Mord an zwei unschuldigen Menschen, darunter ein Kleinkind, schockiert das Land. Der Täter, ein Afghane, hätte eigentlich nicht mehr in Deutschland sein dürfen, zumindest unter strenger Beobachtung stehen müssen. Der Impuls von Friedrich Merz ist in dieser Situation nachvollziehbar: Die Bürgerinnen und Bürger dürften nicht länger das Gefühl haben, nur die AfD biete eine echte Veränderung in der Migrations- und Sicherheitspolitik. Es müsse sich sofort etwas ändern.

Doch von da aus ist der Weg ins Desaster schon vorgezeichnet: Es sei ihm »egal«, mit wem er seinen Plan für eine Politikwende durch den Bundestag bringe, sagte Merz. Seinen Vorsatz, vor jeder Abstimmung eine Mehrheit mit SPD und Grünen zu suchen, schlug er in den Wind. Der Mann, der sich anschickt, Kanzler zu werden, zog in einem entscheidenden Moment populistische Kompromisslosigkeit der staatstragenden Vernunft vor. Und so kam es, wie es kommen musste.

Der Einwand, die Mehrheit mit der AfD sei deshalb kein Bruch mit der Brandmauer, da es zuvor keine Absprachen mit der Rechtsaußen-Partei gegeben habe, überzeugt nicht. Nach wie vielen Anträgen und Gesetzen, die auf diese Weise zustande kommen, wäre es denn so weit mit dem Ende der Brandmauer? Nach fünf? Nach 50?

Möglicherweise hat die Union vergessen, wozu es die Abgrenzung zur AfD überhaupt braucht.

Der AfD kann es vorerst herzlich egal sein, was genau für die Konservativen eine politische Zusammenarbeit konstituiert und was (noch) nicht. Sie wird de facto an der Macht in der Bundesrepublik beteiligt, wenn sie im Bundestag zur Mehrheitsbeschafferin der Union wird. »So können wir gerne weitermachen«, sagte die AfD-Abgeordnete Beatrix von Storch genüsslich ihrem CDU-Kollegen Thorsten Frei im Gespräch bei Markus Lanz.

Von Storch hat das Schlupfloch in der Brandmauer der Union erkannt: Die Logik, nach der CDU/CSU in den vergangenen Tagen agiert hat, würde selbst eine de facto von der AfD tolerierte Minderheitenregierung unter einem Kanzler Merz erlauben. Solange keine Absprachen mit der AfD erfolgen, stünde die Brandmauer formal ja noch. Doch dem Geiste nach – und das ist das Entscheidende – erodiert sie gerade gefährlich.

Möglicherweise hat die Union vergessen, wozu es die Abgrenzung zur AfD überhaupt braucht: Die Beteiligung von Rechtsextremen an einer deutschen Regierung muss unbedingt verhindert werden. Es bleibt zu hoffen, dass sich die Konservativen auf diese Maxime besinnen. Ansonsten droht die Brandmauer Stück für Stück abgetragen zu werden – bis irgendwann eine Koalition mit der AfD gar nicht mehr so undenkbar erscheint. Käme es tatsächlich so weit, diesen Mittwoch hätte das Übel seinen Anfang genommen.

Der Autor ist Redakteur bei der Jüdischen Allgemeinen.

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Contra: Es gehört zur Demokratie, eigene politische Angebote zu formulieren, meint Philipp Peyman Engel

Historischer Tabubruch oder viel Lärm um nichts? Steigbügel für die Rechtsextremisten oder ein ganz normaler demokratischer Prozess? Verkappte Koalition mit Verfassungsfeinden oder im Gegenteil gezielte Schwächung derjenigen, die die liberale Grundordnung im Schutze ebenjener gezielt abschaffen wollen? Zwischen diesen Polen irrlichterte in den vergangenen Wochen eine Debatte, die aufgeregter und hysterischer nicht hätte sein könnte.

Der Hintergrund der Diskussion, kurz vor den Neuwahlen am 23. Februar: Die Union hatte am Mittwoch einen – wohlgemerkt nicht bindenden – Antrag in den Bundestag eingebracht, um nach den fast 20 Jahre währenden Versäumnissen der deutschen Migrations- und Asylpolitik endlich das zu tun, was weder rechts (und schon gar nicht rechtsextrem) ist, sondern dem gesunden Menschenverstand und den Grundlagen der freiheitlichen demokratischen Ordnung ganz und gar entspricht: die illegale Migration endlich zu stoppen. Nur, wer wirklich ein Anrecht auf Asyl hat, sollte künftig kommen dürfen: Flüchtlinge, die in ihren Heimatländern politisch verfolgt werden und um ihr Leben fürchten müssen.

Seit Freitagabend nun herrscht Klarheit: Das Zustrombegrenzungsgesetz der Union ist gescheitert. Hatte der Antrag am Mittwoch noch eine Mehrheit erhalten, erhielt das Gesetz am Freitag nicht die erforderliche Mehrheit des Bundestages.

Lange Zeit hatte CDU-Chef Friedrich Merz bei den großen demokratischen Parteien im Bundestag um Zustimmung für seinen Antrag geworben. Doch allein die FDP sicherte der Union ihre Unterstützung zu. SPD und Grüne gingen auf Distanz. Für sie ist die Verschärfung der Migrationspolitik eine bloße Kopie oder bestenfalls ein Heranrobben an die in großen Teilen rechtsextreme AfD.

Ein anderer zentraler Vorwurf von Kanzler Olaf Scholz (SPD) und Grünen-Chef Felix Banaszak: Die offenkundigen Probleme bei der Steuerung der illegalen Migration von Flüchtlingen und die offensichtlichen Versäumnisse bei der Abschiebung von Menschen ohne Recht auf Asyl seien ausschließlich auf europäischer Ebene zu lösen.

Das Problem ist diesem Land schon seit Langem über den Kopf gewachsen. Es kommen zu viele, die gar nicht hier sein dürften.

Dass dieser Ansatz, spätestens seit dem Jahr 2015, komplett gescheitert ist: geschenkt! Dass es auch auf Bundesebene großer Anstrengungen bedarf, ist offensichtlich. Von Konstanz bis Kiel, über die Parteigrenzen hinweg von SPD- über Grünen- bis hin zu Linken-Landräten sind die Probleme mit der illegalen Migration omnipräsent.

Das Problem ist diesem Land schon seit Langem über den Kopf gewachsen. Oder konkreter: Es kommen zu viele, die gar nicht hier sein dürften. Und es bleiben zu viele, die nach dem Gesetz schon längst in ihre sicheren Heimatländer hätten abgeschoben werden müssen.

Und ja: Daraus erwachsen Probleme auf vielen Ebenen – und nicht zuletzt auch immer wieder unermessliches menschliches Leid, das komplett vermeidbar wäre. Das der Staat zwingend hätte verhindern müssen. Aschaffenburg, Solingen, Magdeburg: Die Liste ließe sich leider um ein Vielfaches verlängern. Diese Städte sind längst Synonyme für Anschläge geworden, die zwingend hätten vermieden werden müssen.

Ist es rechtsextrem, dies klar zu benennen? Im Gegenteil: Es ist vielmehr Wasser auf die Mühlen der im Kern antidemokratischen, autoritären, antiwestlichen, rassistischen, geschichtsrevisionistischen Partei AfD, in der sich Antisemiten zu Hause fühlen, diesen Umstand weiter zu negieren. Und ein großer politischer Fehler der SPD und der Grünen, die doch eigentlich als Volksparteien wahrgenommen werden wollen, ihre Unterstützung für den Antrag kategorisch ausgeschlossen zu haben.

Zugegeben: CDU-Kanzlerkandidat Merz hatte sich im Anschluss an die Absage mit seiner unkontrollierten, unbeherrschten und oft auch flapsigen Art auf einer Pressekonferenz einmal mehr keinen Gefallen getan, als er sagte, ihm sei es egal, wer für seinen Antrag stimme. Es kann und sollte ihm nicht egal sein. Denn von der Zustimmung der demokratischen Mitte zu seinem Antrag hängt auch die Sicherheit des Landes ab. Mutmaßlich ärgert sich Merz selbst am meisten über seinen Fehler, nicht wenige seiner Fraktionskollegen jedenfalls sind deswegen sichtlich genervt.

Doch wahr ist auch, und das wiegt ungleich schwerer als Merzʼ poltrige Art, dass die demokratischen Parteien im Parlament auf offener Bühne dabei gescheitert sind, in der Migrations- und Asylpolitik gemeinsam einen vernünftigen Weg zu beschreiten. Stattdessen wird Friedrich Merz als Rechtsextremer diffamiert und in die Nähe des Nationalsozialismus gestellt. Nicht wenige seiner Kritiker gerieren sich als halbe Widerstandskämpfer. Es ist ein unsägliches Schauspiel. Und ein gefährliches. Nutznießer ist einmal mehr die AfD, die sich die Hände reibt und nunmehr zweitstärkste Kraft im Bund ist.

Die derzeitige rot-grüne Übergangsregierung hat es versäumt, ihrer staatspolitischen Verantwortung gerecht zu werden.

Zentralratspräsident Josef Schuster brachte es auf den Punkt: »Indem die AfD wiederholt diese Rolle erhält, lassen wir zu, dass Rechtspopulismus und Rechtsextremismus unsere gesellschaftlichen Debatten bestimmen.« Und weiter: »Klar ist, dass im Interesse unserer Gesellschaft ein Wandel im Umgang mit illegaler Migration in Deutschland notwendig ist.«

Hand aufs Herz: Die derzeitige rot-grüne Übergangsregierung hat es versäumt, ihrer staatspolitischen Verantwortung gerecht zu werden. Sie wäre gut beraten gewesen, mit einer verschärften Migrationspolitik eines der zentralen Probleme dieses Landes zu lösen, anstatt es aus ideologischen Gründen weiter zu ignorieren.

Extremisten sind immer nur so stark, wie die demokratischen Kräfte es zulassen. Die AfD ist nicht so stark, weil sie überzeugende politische Konzepte hätte, sondern weil die demokratischen Parteien die drängenden Probleme unserer Zeit entweder ignorieren oder unzureichend zu lösen versuchen.

Heißt das nun, dass Friedrich Merz die viel zitierte Brandmauer zur AfD abgerissen hat? Mitnichten. Die Brandmauer abreißen, das würde bedeuten, die Politik der AfD zu kopieren oder mit ihr zu koalieren. Beides ist nicht im Ansatz der Fall. Und steht auch nicht zur Debatte. Jedwede Annäherung an die AfD stünde in diametralem Gegensatz zu den Werten der Unionsfraktion. Die Wähler und die beiden Parteien selbst würden es – zu Recht – niemals akzeptieren.

Wie geht es nun weiter? Die Brandmauer hält. Und im Grunde ist es ziemlich banal: Es gehört zum Wesen der Parteiendemokratie, eigenständige politische Angebote zu formulieren, diese vorzustellen, zu diskutieren und dann im Parlament zur Abstimmung zu bringen. Es würde vielmehr der Demokratie hohnsprechen, auf notwendige Anträge zu verzichten, aus Sorge, die AfD könnte zustimmen. Ein richtiger Antrag wie das »Zustrombegrenzungsgesetz« wird nicht dadurch falsch, dass die AfD ihm zustimmt.

Der Autor ist Chefredakteur der Jüdischen Allgemeinen.

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