Die New Yorker Philosophin Linda Martín Alcoff soll ab dem 29. Juni die »Adorno-Vorlesungen« am traditionsreichen Institut für Sozialforschung (IfS) an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main halten. Nun steht gegen sie der Vorwurf der Nähe zur antisemitischen BDS-Bewegung im Raum.
In einem offenen Brief fordern das Junge Forum der DIG Frankfurt, der Bundesvorstand des Jungen Forums sowie der Verband Jüdischer Studierender Hessen (VJSH): »Kein Israelboykott im Namen Adornos!« Linda Martín Alcoff vertrete israelfeindliche Positionen, wird in dem Brief behauptet. Als Beleg werden zwei Aufrufe, die Alcoff in der Vergangenheit unterzeichnet beziehungsweise mitverfasst hat, angeführt.
Apartheid Zum einen unterschrieb Alcoff im Mai 2021 den Aktionsaufruf »Free Palestine/Strike MoMA: A Call to Action«, in dem Künstler und Intellektuelle ihre »Unterstützung für den palästinensischen Kampf gegen die israelische Kolonialherrschaft und ihr Apartheidsystem« erklärten und dem Museum of Modern Art (MoMA) in New York vorwarfen, »Siedlerkolonialismus, Imperialismus und rassistischen Kapitalismus in Palästina, den USA und der ganzen Welt« zu unterstützen.
Linda Martín Alcoff verfasste zusammen mit einer verurteilten PFLP-Terroristin einen Aufruf zum Frauenstreik.
In dem Aufruf wird sich auch positiv auf die BDS-Bewegung bezogen. BDS steht für »Boycott, Divestment and Sanctions« und ist eine Kampagne, die sich für eine wirtschaftliche, kulturelle und politische Isolierung Israels einsetzt. Der Deutsche Bundestag hat 2019 in einer Resolution BDS als antisemitisch verurteilt.
Im März 2017 war Alcoff zudem eine von acht Personen, die in der britischen Zeitung »The Guardian« anlässlich des internationalen Frauentags zum Streik aufriefen. Eine weitere Mitverfasserin des Textes ist Rasmea Yousef Odeh – eine rechtskräftig verurteilte Terroristin. Sie war 1969 an einem Anschlag beteiligt, der im Namen der Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP) in einem israelischen Supermarkt durchgeführt worden ist. Dabei starben zwei Menschen, neun weitere wurden verletzt. Wegen ihrer terroristischen Aktivitäten wurde Odeh 2019 die Einreise nach Deutschland verweigert.
Linda Martín Alcoff hat sich zu diesen Vorwürfen gegenüber der Jüdischen Allgemeinen bisher nicht geäußert. Die Geschäftsführung des IfS erklärte aber auf Anfrage, dass man die Adorno-Vorlesungen wie geplant stattfinden lassen wolle. »Die außerwissenschaftlichen Aktivitäten unserer Referentin« habe die Geschäftsführung »im Grundsatz nicht zu beurteilen«.
Dennoch wende man sich »nicht zuletzt im Lichte der eigenen Institutsgeschichte, mit allem Nachdruck gegen die Aktivitäten der BDS-Bewegung« und distanziere sich von dem von Alcoff im Mai 2021 unterzeichneten Aufruf gegen das MoMA. Der Aufruf zum Frauenstreik, den Alcoff gemeinsam mit einer ehemaligen PFLP-Terroristin geschrieben hat, stehe jedoch »in keinerlei inhaltlichen Beziehung zu Israel«.
Forscher Die Geschichte des renommierten IfS ist stark von jüdischen Persönlichkeiten geprägt. Sein Stifter, Felix Weil, war genauso jüdischer Herkunft wie viele der wichtigsten Forscher des Instituts – darunter Max Horkheimer, Friedrich Pollock und Theodor W. Adorno, der Namensgeber der jährlich am IfS stattfindenden Vorlesungsreihe. Gemeinsam haben sie entscheidende Impulse zur Etablierung und Weiterentwicklung der Sozialwissenschaften gesetzt und die sogenannte Frankfurter Schule begründet.
Die Geschichte des renommierten IfS ist stark von jüdischen Persönlichkeiten geprägt.
Heute ist das IfS zwar Teil der Goethe-Universität, genießt aber eine umfassende wissenschaftliche Autonomie und ist eine eigenständige Stiftung des bürgerlichen Rechts. Das Präsidium der Universität ließ auf Anfrage dieser Zeitung wissen, dass die Adorno-Vorlesungen vom IfS »als selbstständige Wissenschaftseinrichtung kuratiert und durchgeführt« würden und man keinen Einfluss auf »die Themenwahl, Programmgestaltung und Auswahl der Vortragenden« habe.
Die Goethe-Universität spreche sich aber entschieden gegen »alle Aktivitäten und Organisationsformen, die das Existenzrecht Israels in Frage stellen« aus und habe sich von der Leitung des IfS versichern lassen, »dass die geplanten Vorträge im Rahmen der aktuellen Adorno-Vorlesung keine inhaltlichen Berührungspunkte mit Positionen der BDS-Kampagne aufweisen«.
Genau das befürchtet aber das Junge Forum der DIG Frankfurt. »Basierend auf den Erfahrungen, die wir mit der documenta gemacht haben, fanden wir es dringend geboten, vor den geplanten Vorträgen öffentlich zu warnen«, sagte ein Vorstandmitglied des Jungen Forums Frankfurt im Gespräch mit der Jüdischen Allgemeinen. Bei der Kasseler Kunstaustellung hätten sich frühe Ahnungen, es würde dort zu Antisemitismus kommen, bewahrheitet. Ähnliches sei auch von Alcoffs Vortragsreihe mit dem Titel »Race, Culture, History« zu erwarten.
In dem Ankündigungstext der insgesamt drei Vorträge ist etwa von der »Möglichkeit einer antikolonialen und widerständigen Praxis« die Rede. Alcoff wolle aufzeigen, »wie bestehende problematische Vorstellungen über den Globalen Süden zu überwinden sind, um Kulturen in ein neues, emanzipatorisches Verhältnis zueinander setzen zu können.« Mit dem Wissen um Alcoffs israelfeindliche Stellungnahmen ließen diese Ausführungen befürchten, dass es bei ihrem Vortrag zu »antisemitischen Auslassungen gegenüber dem jüdischen Staat« kommen könne, heißt es in dem offenen Brief ihrer Kritiker.
Ignoranz Man sei »schockiert über die Ignoranz des Frankfurter Instituts für Sozialforschung gegenüber der juden- und israelfeindlichen Positionen ihrer Referent:innen«, heißt es in dem Brief weiter. Im Februar 2021 habe sich das IfS bereits dadurch negativ hervorgetan, dass es Mitveranstalter einer Konferenz gewesen ist, bei der auch der als israelfeindlich bekannte Intellektuelle Achille Mbembe einen Vortrag gehalten hat.
In dem Ankündigungstext der von Alcoff geplanten Vorlesungen taucht der Name Adornos nicht auf.
Die Unterzeichner des offenen Briefes fordern das IfS deshalb dazu auf, »eine klare Stellungnahme gegen die ›BDS‹-Bewegung« zu fassen und regen zudem »eine kritische Auseinandersetzung mit dem antisemitischen Gehalt gegenwärtiger postkolonialer Theorien« an und damit, »wie postkoloniale theoretische Ansätze ohne Antisemitismus aussehen können«.
Auf der Website des IfS heißt es über die Vorlesungsreihe, die seit 2002 stattfindet, sie solle »an drei Abenden an Theodor W. Adorno erinnern«. In dem Ankündigungstext der von Alcoff geplanten Vorlesungen taucht jedoch weder der Name des Denkers mit jüdischen Wurzeln auf, noch gibt es einen klaren Verweis auf seine Theorien. Die Geschäftsführung des IfS ließ dazu wissen: »Wie Frau Prof. Alcoff diese Rahmung konkret interpretiert, wird sich erst im Zuge ihrer drei Vorlesungen erweisen.«