Herr Bundeskanzler, Israel begeht am 2. Mai den Jom Haschoa, den Gedenktag für die Opfer und Helden des Holocaust. Was bedeutet Ihnen die Erinnerung an die Schoa?
Ich halte es für ganz wichtig, dass wir in Österreich mittlerweile einen klaren Blick auf unsere Geschichte haben. Er ist zu spät geschärft worden, Österreich hat sich viel zu lange ausschließlich als Opfer der Nationalsozialisten gesehen, aber dieser Wahrheit stellen wir uns. Ich glaube, dass wir aufgrund unserer Geschichte auch eine ganz besondere Verantwortung für die Gegenwart und Zukunft haben. Daher sind wir verpflichtet und entschlossen, den Kampf gegen Antisemitismus hier und in Europa zu führen. Wir sind aber auch verpflichtet, den Staat Israel und das jüdische Leben in Israel zu unterstützen. Und diesen Weg haben wir als neue Bundesregierung ganz konsequent eingeschlagen.
Anders als mancher Vorgänger haben Sie beim Besuch in Jerusalem im Juni vergangenen Jahres die Verantwortung Österreichs, nicht nur die der Österreicher, anerkannt. Warum?
Die Wahrheit ist, dass es in unserem Land sehr viele Opfer gab, aber auch sehr viele Täter. Und natürlich haben wir als Land eine Verantwortung. Aus meiner Sicht bedeutet das heute vor allem, entschlossen zu handeln, wenn es zunehmend mehr judenfeindliche und antizionistische Bewegungen gibt.
Welche meinen Sie genau?
Das Existenzrecht Israels wird noch immer infrage gestellt. Der Blick internationaler Organisationen auf Israel ist noch immer kein gerechter. Da sind auch und besonders Staaten mit einer geschichtlichen Verantwortung gefordert, wie Österreich sie hat. Dieser Aufgabe wollen wir gerecht werden.
Sprechen Sie auch für Ihren Koalitionspartner FPÖ, der regelmäßig mit antisemitischen und fremdenfeindlichen Ausfällen von sich reden gemacht hat?
Die FPÖ hat unter dem Vizekanzler stets klar auf antisemitische Vorfälle reagiert und bekennt sich zum gemeinsamen Kampf gegen Antisemitismus. Das ist richtig und wichtig so.
Lassen Sie uns diese Frage später noch vertiefen, aber für den Moment bei Ihrem Engagement für die jüdische Gemeinschaft bleiben. Sie treffen häufig Schoa-Überlebende, darunter auch viele ehemalige Österreicher. Wie erleben Sie diese Begegnungen?
Mittlerweile habe ich wirklich schon viele dieser Gespräche geführt, trotzdem ist jedes einzelne unheimlich beeindruckend, gleichzeitig schwierig, deprimierend und fordernd.
Inwiefern?
Weil einem vor Augen geführt wird, welch unfassbares Leid auch in Österreich verursacht wurde. Zu welcher unfassbaren Grausamkeit Menschen – auch Bürger unseres Landes – imstande waren. Auf der anderen Seite sind die Gespräche beeindruckend, weil viele der Überlebenden keine Rachegelüste haben und auch keine Schwere ausstrahlen, sondern im Gegenteil sehr viel Fröhlichkeit und Lebensfreude spürbar ist. Das ist wirklich oft unfassbar. Man kann es auch kaum glauben, wenn Überlebende zum Beispiel aus Israel kommen und Österreich zum ersten Mal wieder besuchen, nachdem sie vertrieben wurden, und dennoch so viele positive Erinnerungen und Verbindungen mit unserem Land haben. Dann weiß man als Regierungschef gar nicht, wie man das annehmen kann.
Sie haben die Linie von Bruno Kreisky – und seither fast allen Regierungschefs – verlassen, neutral bis distanziert in Bezug auf Israel und im Zweifel auf der Seite der Palästinenser zu sein. Was brachte den Wandel?
Die Bundesregierung, der ich als Bundeskanzler vorstehe, darf die Linie vorgeben. Insofern gibt es eine Neupositionierung Österreichs in dieser Frage. Wir hatten früher – sozialdemokratisch geprägt – eine Politik, wie Sie sie gerade beschrieben haben. Ich habe mich schon als Außenminister sehr schwer damit getan, war auch nicht bereit, diese Linie zu 100 Prozent mitzutragen. Ich hatte aber nicht die Möglichkeit, sie alleine zu ändern. Jetzt in dieser Regierungskonstellation und mit der Chance, als Bundeskanzler hier mehr Gewicht zu haben, bot sich die Option, unseren Kurs zu ändern. Das habe ich getan.
Wie macht sich das bemerkbar?
Israel ist unser Partner. Israel ist ein wichtiger Verbündeter. Und Israel verdient unsere Unterstützung. Der jüdische Staat verdient unsere Unterstützung. Das bedeutet nicht, dass wir wegsehen, wenn es Fehlverhalten aufseiten der Israelis geben sollte. Das bedeutet auch nicht, dass wir die Siedlungspolitik gutheißen oder von der Zweistaatenlösung abrücken. Aber was wir nicht mehr tun – und was meiner Meinung nach zu viele Staaten tun –, ist, Israel anders zu behandeln als andere Staaten dieser Welt und mit anderen Standards zu agieren. Ich habe selbstverständlich auch Interesse an einem guten Kontakt mit den Palästinensern. Aber ich habe ganz bewusst bei meiner ersten Reise nach Israel als Hauptansprechpartner Benjamin Netanjahu und die israelische Regierung getroffen.
Die israelische Regierung boykottiert Ihren Koalitionspartner FPÖ und damit auch Außenministerin Karin Kneissl. Der ORF sprach bei Ihrem Besuch in Israel von einem diplomatischen Spagat. Empfanden Sie das auch so?
Das ist eine Entscheidung der israelischen Regierung, die wir zu respektieren haben. Natürlich ist es unser Interesse, auf allen Ebenen mit Israel gut zusammenzuarbeiten. Ich habe mich aber umso mehr bemüht, meinen guten Kontakt aufrechtzuerhalten. Das war auch niemals ein Problem.
Der Besuch in Israel war gekennzeichnet von zahlreichen symbolischen Gesten, wie dem Besuch an der Klagemauer.
Dass der Besuch an der Klagemauer als ein derart großes Symbol wahrgenommen wurde, hat mich persönlich überrascht, weil ich auch als Außenminister bereits dort war und das als Selbstverständlichkeit erachtet habe. Wenn andere Regierungschefs das nicht tun, frage ich mich eher, warum.
Sie haben erklärt, dass Österreich derzeit keine Verlegung der Botschaft nach Jerusalem plant. Bleibt es dabei?
In dieser Frage sind wir sehr zurückhaltend, weil wir derzeit nicht den Eindruck haben, dass eine Verlegung der Botschaft ein Beitrag zur Konfliktlösung wäre.
Sie haben Premierminister Netanjahu umgehend zum Wahlsieg gratuliert, mehrere Tage vor vielen anderen EU-Regierungschefs. Warum so schnell?
Wie schon erwähnt, ist es für Österreich sehr wichtig, ein gutes Verhältnis zu Israel zu pflegen. Benjamin Netanjahu ist ein Freund Österreichs, und nachdem klar wurde, dass er die Wahl gewonnen hatte, haben wir ihm zum Sieg und zum besten Ergebnis seit vielen Jahren gratuliert – so wie viele weitere Staats- und Regierungschefs, wie etwa Indiens Premierminister Narendra Modi.
Nicht alle Staaten sehen das so wie Sie. Wie bewerten Sie es, dass der jüdische Staat bei den Vereinten Nationen und von der EU ins Visier genommen wird?
Das sehe ich sehr negativ. Ich bin ein Mensch, für den Gerechtigkeit sehr wichtig ist. Und unterschiedliche Standards darf es einfach nicht geben. Israel soll in einer Resolution verurteilt werden, wenn es der Staat auch wirklich verdient. Aber eine ungleiche Behandlung sollte nicht im Sinne der Vereinten Nationen sein. Und daher haben wir auch dort, wo wir es für richtig erachtet haben, unser Stimmverhalten adaptiert. Und ich werde auch innerhalb der Europäischen Union darauf hinwirken, dass der Blick ein ausgewogener wird.
Wie beurteilen Sie Äußerungen und Abstimmungsverhalten der deutschen Bundesregierung in Bezug auf Israel im europäischen Rahmen und in der UN?
Wir haben innerhalb der Europäischen Union als Republik Österreich sicherlich eine sehr positive Haltung. Das entspricht unserer Überzeugung. Das ist auch aufgrund unserer geschichtlichen Verantwortung richtig so. Deutschland und andere Staaten müssen ihre Position für sich entscheiden. Dort, wo wir Überzeugungsarbeit leisten können, versuchen wir, das zu tun.
Ihre pro-israelische Haltung und Hinwendung zur jüdischen Gemeinschaft wird oft als Ablenkungsmanöver vom umstrittenen Koalitionspartner FPÖ kritisiert. Was sagen Sie dazu?
Kritik ist immer ernst zu nehmen. Aber falsche Behauptungen sind schlecht, vor allem, wenn sie ganz einfach widerlegt werden können. Ich habe mich in meinem gesamten politischen Leben, auch als ich Staatssekretär für Integration wurde, immer starkgemacht für den Kampf gegen Judenhass und eine stärkere Partnerschaft zwischen Österreich und Israel. Ich habe viele Jahre, bevor ich Außenminister, Parteichef oder Regierungschef wurde, und bevor ich mit der FPÖ koaliert habe, eine pro-israelische Haltung gehabt. Auch schon in der Diskussion mit dem damaligen Koalitionspartner SPÖ habe ich versucht, unsere Außenpolitik in eine israelfreundlichere Richtung zu bringen.
Der Präsident der Israelitischen Kultusgemeinden Österreichs, Oskar Deutsch, hält das Vorgehen der FPÖ-Parteispitze gegen die sich wiederholenden antisemitischen Vorfälle bei den Freiheitlichen nicht für glaubwürdig. Sehen Sie das anders?
Immer wenn es antisemitische Vorfälle gibt, egal in welcher Partei, dann melde ich mich zu Wort und versuche, auch die Möglichkeiten meiner Position zu nutzen, damit das Konsequenzen nach sich zieht. Wir haben in Österreich mit dem Verbotsgesetz die strengste Gesetzgebung in diesem Bereich weltweit. Jede Form von Wiederbetätigung ist nicht nur strafbar, sondern führt im Regelfall zu einer jahrelangen Haftstrafe. Ich kann nur sagen, ohne für meinen Koalitionspartner sprechen zu wollen, dass der Vizekanzler und Chef der FPÖ in dieser Frage auch sehr klar ist und immer, wenn es antisemitische Wortmeldungen gibt, klare Konsequenzen zieht. Er hat auch ganz deutlich gemacht, dass jemand, der antisemitisches Gedankengut in sich trägt, in der FPÖ keinen Platz hat. Es ist wichtig, eine klare Trennlinie zu ziehen.
Ein Schreiben eines niederösterreichischen FPÖ-Landesrates hat für heftige Kritik gesorgt. Er forderte, dass sich Käufer von koscherem Fleisch zuvor namentlich in Listen eintragen müssten. Wie kommentieren Sie diesen Vorgang?
Wir haben sofort reagiert, weil ich grundsätzlich finde, dass wir als Republik Österreich ein religionsfreundlicher Staat sein sollten. Mit uns wird es weder ein Verbot fürs Schächten noch für die Beschneidung geben. Doch was bei diesem Thema nie medial bekannt wurde, ist, dass der Entwurf dieses Gesetzes nicht von einem Freiheitlichen kommt, sondern von seinem sozialdemokratischen Vorgänger. Das macht die Sache nicht besser. Ich glaube nur, dass die Empörung daher kommt, dass die Initiative angeblich von einem Freiheitlichen kam. In Wahrheit sieht das anders aus.
Klar wie selten zuvor forderten Sie jetzt eine Abkehr der FPÖ von der »Identitären Bewegung«. Fürchten Sie in diesem Zusammenhang um den Ruf Österreichs im Ausland?
Ich habe ganz klar gesagt, dass die Identitären und dieses widerliche Gedankengut bei uns keinen Platz haben dürfen. Und auch von meinem Koalitionspartner habe ich verlangt, dass es hier eine deutliche Distanzierung gibt. Der Vizekanzler hat das auch so vorgenommen. Er hat gesagt, wer sich bei den Identitären engagiert, fliegt aus der FPÖ raus. Er dulde keine strukturellen, finanziellen oder persönlichen Verbindungen. Das halte ich für notwendig.
Die Opposition findet die Distanzierungsversuche der FPÖ von den Identitären unglaubwürdig. Ab welchem Punkt würden Sie als Regierungschef mit Blick auf die FPÖ die Reißleine ziehen?
Diese rote Linie ist bei jeglicher Form von Antisemitismus oder Rechtsextremismus überschritten, dafür gibt es null Toleranz in meiner Regierung und im ganzen Land.
In Deutschland gibt es eine große Debatte über No-Go-Areas für Juden, in denen äußerlich erkennbare Juden sich nicht ungefährdet aufhalten können. Gibt es diese Bereiche auch in Österreich? Und falls ja: Von wem geht die Gefahr aus?
In Österreich sowie in ganz Europa werden wir immer stärker mit einem importierten Antisemitismus konfrontiert, insbesondere auch aus dem islamisch geprägten Raum. Dieses Gedankengut bringt neben dem althergebrachten Antisemitismus neue Herausforderungen mit sich, denen wir entschlossen entgegentreten müssen. Erst kürzlich hat der österreichische Nationalratspräsident eine diesbezügliche Studie präsentiert, die diese Entwicklung genau verfolgt hat und uns im Ergebnis vor allem veranschaulicht, wie wichtig und dringend es ist, dass wir als Gesamtgesellschaft gegen Antisemitismus in jeder Form vorgehen müssen. Klar ist für mich: Mehr als 70 Jahre nach dem Holocaust darf es in Europa keine No-Go-Areas für Juden geben.
Bei einer internationalen Antisemitismuskonferenz im November vergangenen Jahres in Wien wurde die Zukunft der Juden in Europa nicht besonders positiv beschrieben. Welches Signal erwarten Sie in dieser Hinsicht von der bevorstehenden Europawahl?
Ich werde, so lange ich Bundeskanzler bin, immer alles tun, um für die Sicherheit der jüdischen Gemeinde in Österreich und in Europa zu sorgen. Deshalb haben wir bewusst im Rahmen des österreichischen EU-Vorsitzes einen Schwerpunkt auf den gemeinsamen Kampf gegen Antisemitismus gelegt und damit ein starkes Signal über Europa hinaus senden können. Neben der internationalen Konferenz gegen Antisemitismus in Wien ist es uns gelungen, den gemeinsamen Kampf gegen Antisemitismus und den Schutz des jüdischen Lebens in Europa auch in den Ratsschlussfolgerungen des Europäischen Rates im Dezember 2018 festzuhalten. Ein Europa, in dem sich Juden nicht sicher fühlen, ist nicht unser Europa. Es ist leider nicht mehr nur der schon immer vorhandene Antisemitismus, den es schon lange auf unserem Kontinent gibt, sondern oft auch zusätzlich importierter muslimischer Judenhass. Ganz gleich, ob schon lange vorhanden oder neu importiert: Beides muss und wird von uns entschieden bekämpft werden.
Mit dem österreichischen Bundeskanzler sprachen Philipp Peyman Engel und Detlef David Kauschke.