Ein 76-jähriger britischer Jurist wird Israel vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag gegen den von der südafrikanischen Regierung erhobenen Vorwurf verteidigen, es verübe im Gazastreifen einen Völkermord.
Der Völkerrechtler Malcolm Shaw, der lange Zeit an der University of Leicester in England lehrte und mehrere Standardwerke zum internationalen Recht verfasste, wurde von der israelischen Regierung als Rechtsbeistand berufen. Er sei »stolz, geehrt und privilegiert«, Israel in Den Haag vertreten zu dürfen, sagte er.
Shaw hat Erfahrung mit ähnlichen Verfahren und war in der Vergangenheit bereits als Anwalt vor dem höchsten UN-Gericht im Einsatz. Er gilt als führender Experte für das Völkerrecht und die Menschenrechte.
»Außergewöhnlich brutale Militäraktion«
Die Regierung Südafrikas beschuldigt Israel, seine Militäraktionen gegen die Hamas im Gazastreifen habe einen »genozidalen Charakter«, weil sie in der Absicht begangen würden, die Palästinenser in Gaza zu vernichten. Die Militäroperation in Gaza sei »außergewöhnlich brutal«, argumentiert Südafrika.
Auf 84 Seiten hat Pretoria seine Sicht der Dinge dargelegt. Die Klageschrift beinhaltet auch einen Antrag auf den Erlass »sofortiger Maßnahmen« durch den IGH, um die israelische Militäroperation in Gaza zu beenden.
Grundlage für das Verfahren ist das »Übereinkommen über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes«, die sogenannte UN-Völkermordkonvention von 1948, die eine Reaktion war auf den Holocaust. 147 Staaten, darunter auch Israel und Südafrika, haben das Vertragswerk ratifiziert. Es ächtet Handlungen von Einzelpersonen und Staaten, die in der Absicht begangen werden, »eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören«.
Dazu zählen sowohl die gezielte Tötung von Mitgliedern besagter Gruppe als auch »die Verursachung von schwerem körperlichen oder seelischem Schaden« und die »vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung« herbeizuführen. Die Klage richtet sich gegen den Staat Israel und nicht gegen namentlich genannte Personen.
Südafrika ist jedoch der Ansicht, dass »das Verhalten Israels - durch seine Staatsorgane, Staatsagenten und andere Personen und Einrichtungen, die auf seine Anweisungen oder unter seiner Leitung, Kontrolle oder Einflussnahme handeln - in Bezug auf die Palästinenser in Gaza gegen die Verpflichtungen aus der Völkermordkonvention verstößt.« Deswegen müsse Israel seine Handlungen in Gaza sofort einstellen und die Personen, die sich schuldig gemacht hätten, vor ein Strafgericht stellen. Außerdem solle der IGH Israel zur Wiedergutmachung der Schäden im Gazastreifen verpflichten, so die Klageschrift.
Eine einfache Mehrheit der Richter reicht für eine Verurteilung aus
Israel rekurriert hingegen auf sein völkerrechtlich verbrieftes Recht auf Selbstverteidigung, welches auf dem Artikel 51 der UN-Charta fußt. Am 7. Oktober hatte die Terrororganisation Hamas die Grenzbefestigungen durchbrochen und war auf israelisches Territorium vorgedrungen. Mehr als 1.200 Menschen wurden ermordet, 240 in den Gazastreifen verschleppt, mehr als die Hälfte der Geiseln befindet sich auch knapp 100 Tage nach dem Anschlag weiter in Geiselhaft der Hamas.
Den Vorwurf des Völkermords weist Jerusalem scharf zurück. Für das Leid der Palästinenser im Gazastreifen sei ausschließlich die Hamas verantwortlich. Bei der militärischen Bekämpfung der islamistischen Gruppierung tue Israel alles, um den Schaden für die Zivilbevölkerung so gering wie möglich zu halten.
Die erste Anhörung in Den Haag ist für kommenden Donnerstag angesetzt. Zunächst wird Südafrika seinen Antrag auf eine einstweilige Anordnung des Gerichtshofs begründen. Am Freitag dürfte Malcom Shaw dann Israels Verteidigung vortragen. Berichten israelischer Medien zufolge arbeitet die Regierung in Jerusalem mit Nachdruck an der Verteidigung gegen die Vorwürfe. Das israelische Außenministerium hat einem Bericht des Journalisten Barak Ravid zufolge seine Botschaften in aller Welt angewiesen, die Regierungen von Drittstaaten dazu zu drängen, vor dem IGH Stellungnahmen zur Klage Südafrikas abzugeben.
Schoa-Überlebender als Richter
Das Verfahren in den anderen Punkten dürfte sich über mehrere Monate, wenn nicht Jahre hinziehen. Der IGH soll laut Statut Konflikte zwischen Staaten möglichst friedlich beilegen. Er ist das wichtigste Rechtsprechungsorgan der Vereinten Nationen. Insgesamt werden alle 15 ständigen Richter am IGH über den Antrag Südafrikas befinden. Sie entscheiden mit einfacher Mehrheit. Zudem dürfen die beiden Streitparteien je einen Richter für das Verfahren benennen.
Die Regierung von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hat Aharon Barak, den 87-jährige ehemaligen Vorsitzende Richter am Obersten Gerichtshof, ausgewählt. Barak ist nicht nur ein Kritiker von Netanjahus umstrittener Justizreform. Unter seinem Vorsitz beanspruchte das oberste Gericht Israels auch Kompetenzen, die die aktuelle Regierung wieder beseitigen möchte.
Eine Rolle bei seiner Benennung als Richter in Den Haag dürfte aber gespielt haben, dass Barak selbst Überlebender des Völkermords der Nazis ist. Als kleines Kind wurde er 1941 ins jüdische Ghetto im litauischen Kaunas eingesperrt. Später wanderte er mit seiner Familie nach Israel aus. Als Generalstaatsanwalt war Barak 1978 auch bei der Aushandlung des Camp-David-Friedensabkommens mit Ägypten involviert. Der Jurist hat zahlreiche Auszeichnungen erhalten.
Deutsche Stellungnahme?
Unterdessen hat die Bundesregierung noch nicht abschließend entschieden, ob sie dem Internationalen Gerichtshof in dieser Angelegenheit eine rechtliche Stellungnahme zukommen lassen wird. Es sei nun die Aufgabe des IGH, den Antrag Südafrikas auf vorsorgliche Maßnahmen zu prüfen, hieß es im Auswärtigen Amt.
In Berlin überlege man noch, ob Deutschland den Richtern seine Rechtsauffassung zur Auslegung der Völkermordkonvention durch eine Intervention darlegen solle und werde die Anhörungen des IGH in Den Haag zum Antrag auf Erlass vorsorglicher Maßnahmen genau verfolgen.
Am vergangenen Freitag sagte ein Sprecher des Auswärtigen Amtes in der Bundespressekonferenz, man habe den Antrag Südafrikas »zur Kenntnis genommen«. Auf die Nachfrage, ob die Bundesregierung schon jetzt eine Position habe, sagte er, man habe schon in der Vergangenheit »sehr deutlich gemacht, dass unserer Auffassung nach die Behauptung, Israel begehe im Gazastreifen einen Völkermord, falsch und nicht durch die Konvention gedeckt ist.«