Der Tahrir-Platz in Kairo ist der Ort, an dem das ägyptische Volk die alten Machthaber besiegt hat. Meinungs- und Religionsfreiheit, soziale Gerechtigkeit und faire Löhne waren das Ziel. Das Land werde den eingeschlagenen Weg hin zur Freiheit nicht mehr verlassen, so hieß es, der Prozess der Demokratisierung sei unumkehrbar.
Doch nur wenige Monate nach den spektakulären Triumphen des Volkes in Ägypten, Tunesien, Libyen und anderen Ländern der Region scheint der arabische Frühling dem Herbst, vielleicht sogar dem Winter gewichen zu sein. Die Revolution ist ins Stocken geraten – zumindest aus Sicht der demokratischen Kräfte. Sie hat sich sogar ins Gegenteil verkehrt. Nach der Flucht des tunesischen Diktators Ben Ali, der Tötung von Muammar al-Gaddafi, dem Sturz von Hosni Mubarak ist eines in der Region immer deutlicher geworden: Die Arabellion wird von den islamistischen Kräften missbraucht.
Wie in der Türkei nutzt die islamische Revolution die demokratischen Strukturen, um Laizisten aus Politik und öffentlichem Leben zu verdrängen. In diesem Sinne wirkt auch die ägyptische Muslimbruderschaft, die im Vergleich zu anderen islamistischen Gruppen – wie zum Beispiel den Salafisten – sogar noch als etwas weniger radikal gelten kann. Dabei erfährt sie mediale Unterstützung, beispielsweise durch den Fernsehkanal Al Jazeera.
Propaganda Ähnliches geschieht in Marokko oder Tunesien. Die Islamisierung und Hinwendung zur Religion ist überall in der Region deutlich festzustellen. Die Islamisten nutzen die neu gewonnene Freiheit. Und auch, wenn es noch unterschiedliche politische Ansätze gibt, haben sie einen gemeinsamen Nenner: Hass auf Israel. Antisemitische Hetze und antiisraelische Propaganda wird – wie in den Straßen von Kairo – allerorts verbreitet. An jeder Ecke sind inzwischen Bücher wie Hitlers Mein Kampf oder die Protokolle der Weisen von Zion zu kaufen. Dass Juden überall in der Welt gegen die islamische und ägyptische Einheit agitieren, gilt als bewiesen.
Hass wird systematisch geschürt. Selbst die Bereitschaft zu einem neuen Waffengang gegen den jüdischen Staat ist immer wieder zu hören. Das findet seinen Ausdruck unter anderem in einer regelrechten Sadat-Nostalgie in Ägypten. Der damalige Präsident wurde 1981 von Islamisten ermordet, heute wird er wieder als Held ge-feiert. Aufgrund seines Friedensschlusses mit Israel 1979? Keinesfalls. Vielmehr wecken Erinnerungen an den von ihm 1973 angeführten Jom-Kippur-Krieg die Begeisterung der Massen.
Diese Massen hörten den Ruf zur Befreiung von »Al Quds« (arabisch für Jerusalem). Ende November, drei Tage vor der historischen Parlamentswahl, riefen die Muslimbrüder als größte politische Kraft Ägyptens zur Versammlung in die Al-Azhar-Moschee. Die ist Teil der Universität, die Barack Obama vor zweieinhalb Jahren als Ort für seine Grundsatzrede wählte, in der er die Muslime in aller Welt zum Neuanfang in gegenseitigem Respekt aufrief.
Muslimbrüder Einige tausend Menschen bejubeln nun die Worte der spirituellen Führer der Muslimbrüder und ihrer palästinensischen Gäste: hasserfüllte Reden gegen Israel, die »zionistischen Besatzer« und »betrügerische Juden«, die getötet würden – eines Tages, wenn selbst »die Bäume und die Steine, hinter denen sich noch die letzten Juden verstecken«, zu ihrer Ermordung aufrufen werden. Der Kampf gegen die »Judaisierung« Jerusalems habe längst begonnen.
Was sie sagen, meinen sie auch. Der Dschihad, der Heilige Krieg, ist nicht Teil der Geschichte der Muslimbruderschaft, sondern vielmehr Gegenwart und Zukunft. Hauptaufgabe aller Muslime sei in diesen Tagen die Befreiung »ganz Palästinas«.
Keine guten Nachrichten für den jüdischen Staat und für Juden in aller Welt. Auch nicht für den Westen. Für ihn ist es sogar der Lackmustest: Wie hält er es mit der Solidarität und den immer wieder beteuerten Sicherheitsgarantien für Israel?
Mehr noch: Die westliche Welt muss jetzt klare Linien ziehen. Wie lange ist sie bereit, Entwicklungen in den neuen arabischen Demokratien zu akzeptieren, die nichts mit ihren Vorstellungen von Menschenrechten und Demokratie zu tun ha-
ben?
Selbst die Väter der Revolution beginnen inzwischen zu verstehen, dass ihnen die Initiative entrissen wurde. Alle, die Hoffnung auf demokratische Änderung hatten, erkennen, dass die mutigen Demonstranten vom Tahrir-Platz eben nicht repräsentativ für die arabischen Gesellschaften waren. Das gilt ebenso für Tunesien und Marokko.
Die Islamisten nutzen die Gunst der Stunde. Es ist das »Coming-out« einer Bewegung, die in den vergangenen Jahrzehnten politisch nicht aktiv sein konnte, die aber die demokratischen Strukturen missbraucht, um eigene Ziele zu verwirklichen. Sie haben die Revolution »gekidnappt«.
Der Tahrir-Platz war das Symbol der Hoffnung. Nun ist er ein Symbol der Enttäuschung. Der arabische Frühling ist zum islamistischen Frühling geworden.
Der Autor ist Korrespondent der israelischen Tageszeitung »Yedioth Ahronoth«.