Als der Krieg begann, lebten nur noch halb so viele Juden in Deutschland wie 1933, und das, obwohl das Reich nun ein »Großdeutsches« war und das angeschlossene Österreich, das Saarland und das Sudetenland umfasste. Die meisten der etwas über eine halbe Million Juden waren ab 1933 aus dem Reich geflüchtet, oftmals im letzten Moment vor dem Kriegsausbruch.
Andere wurden abgeschoben, so die 17.000 polnischen Staatsbürger, die im Oktober 1938 zwangsweise an der polnischen Grenze ausgesetzt wurden. Zudem gab es auch einen natürlichen Bevölkerungsrückgang durch hohe Sterberaten, da vor allem die Jüngeren emigriert waren. Bis zum Eintritt der Vereinigten Staaten in den Krieg im Dezember 1941 gelang es noch einmal knapp 15.000 Juden, auf teilweise abenteuerlichem Wege Deutschland zu verlassen.
angst Als der Krieg begann, reagierten die deutschen Juden mit Gefühlen der Angst wie auch der Hoffnung. Angst, da sie erlebt hatten, wie sich seit Anfang 1938 ihre Lage dramatisch verschlechtert hatte und sie mit dem Kriegsbeginn die Möglichkeit der Auswanderung schwinden sahen. Hoffnung, weil sie ersehnten, dass ein Sieg der Alliierten ein Ende der Nazi-Schreckensherrschaft von außen herbeiführen würde, das von innen unmöglich geworden war. Sie konnten nicht ahnen, dass es bis zur Niederschlagung des Dritten Reichs fast sechs Jahre dauern und dass diese Stunde kaum jemand von ihnen erleben sollte.
Als der Krieg begann, saßen die Juden im angrenzenden Europa in der Falle. Die über drei Millionen Juden in Polen hatten nicht sechs Jahre lang Zeit gehabt, um ihre Auswanderung zu planen. Im westlichen Polen wurden sie innerhalb weniger Stunden und Tage von der deutschen Besatzung überrascht und hatten so gut wie keine Chance zum Entrinnen. Ghettoisierung, Zwangsarbeit, Geiselnahmen, willkürliche Erschießungen und bald auch schon Massenmord prägten von nun an ihr Schicksal.
Die Juden im östlichen Polen kamen unter stalinistische Herrschaft und konnten sich »glücklich« schätzen, wenn sie freiwillig oder unter Zwang innerhalb der nächsten beiden Jahre nach Sibirien oder in die asiatischen Teile der Sowjetunion kamen. Viele deutsche Juden, die vor 1939 in die Tschechoslowakei, nach Frankreich, Holland oder Belgien geflüchtet waren, sahen sich – gemeinsam mit den einheimischen Juden – wiederum den Nazis ans Messer geliefert. Für sie war der 1. September 1939 ein besonders schwarzer Tag.
verbrechen Niemand konnte im September 1939 das Ausmaß der in den kommenden Jahren folgenden Verbrechen absehen. Doch hatte sich in Deutschland bereits seit 1938 eine Radikalisierung der NS-Politik angebahnt. Juden erhielten die Zwangsnamen Israel beziehungsweise Sara und ein »J« in ihren Reisepass gestempelt, sie verloren zumeist auch noch die letzte Möglichkeit für ihre berufliche Existenz, sie sahen ihre Synagogen in Flammen, ihre Fensterscheiben zertrümmert, die meisten Männer wurden in Konzentrationslager gesteckt und oftmals fürchterlich misshandelt. Doch bis zum Kriegsbeginn hatten viele von ihnen noch die Möglichkeit, aus Deutschland zu flüchten: zumeist in exotische Ziele nach Ostafrika, Südamerika und nach Shanghai.
Viele der Zurückgebliebenen hatten eine vage Ahnung, dass der Krieg eine beispiellose Katastrophe für die an Verfolgungen gewiss nicht arme jüdische Geschichte bringen würde. In Dresden schrieb der Jahrzehnte vorher zum Christentum konvertierte, aber von den Nazis weiter als Jude betrachtete Romanistikprofessor Victor Klemperer nach der Nachricht vom Kriegsausbruch in sein Tagebuch, er habe seiner Frau gesagt, »dann sei für uns eine Morphiumspritze oder etwas Entsprechendes das Beste. Das Leben sei zu Ende.«
morden In Warschau notierte Chaim Kaplan, der Direktor einer hebräischen Schule: »Wohin immer Hitler auch kommt, dort gibt es keine Hoffnung für die Juden.« In New York druckte die Exilzeitung »Aufbau« im September 1939 folgende Zeilen: »Des ganzen Judentums Schicksal steht auf dem Spiel ... Dieser Krieg wird das scheußlichste und umfassendste Morden werden, das die Welt je gesehen hat ... In diesem Krieg entscheidet sich noch viel gründlicher als das Schicksal anderer Völker das Schicksal des jüdischen.« Wie recht sollten diese Worte behalten!
Zwar ist der 1. September 1939 nicht der Tag, an dem die Synagogen brannten, und nicht der Tag, an dem die »Endlösung« beschlossen wurde, aber es ist der Tag, an dem das Schicksal der europäischen Juden für die nächsten Jahre besiegelt wurde. Unter dem Deckmantel des Krieges waren nun Verbrechen möglich, die in Friedenszeiten so nicht hätten begangen werden können. Der Zweite Weltkrieg war ein Krieg, der zahlreiche Opfer auf vielen Seiten forderte. Vor allem aber war er ein Krieg gegen die Juden.
Der Autor ist Professor für jüdische Geschichte und Kultur in München sowie Direktor des Zentrums für Israel-Studien der American University in Washington/USA.