NS-Prozess

In der Dunkelkammer

Sie streiten. Sie keifen sich an. Der Verteidiger wirkt beleidigt, auch wenn meist er es ist, der Streit anfängt, er regt sich auf, der Arzt hat es ihm verboten, des Blutdrucks wegen. Der Vorsitzende schluckt seinen Ärger herunter, um später zu sagen, man könne auch einen Anwalt aus dem Gerichtssaal entfernen. Mit dieser Richterbank ist nicht zu spaßen. Der Beisitzer brüllt los, wenn ihm das Treiben des Verteidigers zu bunt wird. Er wippt auf seinem Stuhl, lehnt sich gefährlich weit zurück. Der Angeklagte liegt da und schweigt, manchmal denkt man, er ist tot.

Streit gehört zum Alltag bei Gericht, eine Kammer, die nicht für Ordnung sorgt, wirkt überfordert, ein Anwalt, der seinen Mandanten nicht vehement verteidigt, würde wohl Parteiverrat begehen. Hier aber will keine Routine aufkommen. Das Gericht kriegt die Zügel nicht zu fassen, der Wahlverteidiger agiert wie unter Drogen, die Staatsanwälte schweigen laut. Der Angeklagte treibt in seiner Verweigerung alle vor sich her. Das ist sein Recht. Selbst zu den Journalisten draußen sagt er nichts mehr. »Was ist los, ich bin nicht Hitler«, hat er im Januar noch in eine Kamera geblafft. Nein, Hitler ist er nie gewesen, nur ein »Trawniki«, ein Rad im Getriebe, ein Hilfswilliger der Deutschen Waffen-SS, dem man nicht einen konkreten Mord nachweisen wird. Mindestens 27.900 Juden wurden von April bis Oktober 1943 in Sobibor vergast, Demjanjuk soll dabei gewesen sein. Die Nazis haben nach dem Aufstand alle Spuren verwischt und das Lager »zurückgebaut«. Die Beweislage heute erinnert auf bittere Weise daran.

Weinen Anfangs wirkte der Angeklagte weniger greifbar, doch angreifbarer. Vielleicht, dachte man, duckt er sich unter den Tränen der Zeugen, der Wucht ihrer Geschichten. »Ich bin der einzige Überlebende von der Familie; Großvater, Großmutter, Onkel, Cousine sind tot.« Zeugen, kaum jünger als der Angeklagte, der keine Miene verzieht, was ihnen wie Hohn vorkommt. »Ich habe an niemanden mehr Erinnerung.« Es ist nicht leicht, ein Kind weinen zu sehen, schreibt Heinrich Wefing in der Wochenzeitung »Die Zeit«, aber nur weniges ist so erschütternd wie ein weißhaariger Mann, der um seine Eltern weint. »Sie sind nach Sobibor gegangen, ich habe sie nie mehr gesehen.« Demjanjuk scheint dies nichts anzugehen. Wer ihm im Lager begegnet ist, hat es nicht überlebt; ob er in Sobibor war, muss der Prozess erst klären; und wenn – was er dort trieb, liegt im Dunkeln, in einer Blackbox, die niemand mehr öffnen wird.

Einmal sagt sein Anwalt, Demjanjuk weiß nicht, ob er morgen kommen kann. Der Richter erwidert, wir würden uns aber freuen. Am nächsten Morgen wird er hereingerollt und lässt sich wieder aufbahren. Zur Baseballmütze trägt er jetzt eine Sonnenbrille. Der Vorsitzende lugt herein, ob alle da sind. Er hat gute Laune. Im Publikum sitzen ein paar Kids, sie müssen die Mützen abnehmen, die Polizistin sagt es ganz freundlich. Die Richter treten ein, alle bis auf Demjanjuk stehen auf, der Vorsitzende gibt das Zeichen, sich zu setzen. Oft bittet der Verteidiger ums Wort oder zieht es mit dem Griff zum Mikrofon an sich. Noch ein Antrag auf Befangenheit, die Richter nicken genervt. Es wird wieder lange dauern. Von den Nebenklägeranwälten kommt nur noch Kopfschütteln und blanker Hohn. Das Gericht wird später alles ablehnen, als juristisch dürftig, kaum eines Erstsemesters würdig.
Beweisstück Eines Tages im Februar legt der Wahlverteidiger dem Gericht ein Dokument vor, das heißt, er geht nach vorn und hält es den Richtern vor die Nase. Er lässt das Blatt nicht los, als fürchte er, dass sie es sich näher ansehen. Eine Kopie des Dienstausweises, auf dem steht, dass Demjanjuk in Sobibor war, das wichtigste Beweisstück in diesem Prozess, eine Variante aus dem Internet, die zeigen soll, dass das Dokument in Wahrheit eine Fälschung ist. Ein Nebenklägeranwalt fragt beiläufig nach der Adresse der Website im Netz. »Natallnews, National Alliance News ... for white people worldwide«. Der Vorsitzende fragt, ob der Verteidiger das Dokument noch immer zu den Akten geben wolle. Nein, das wollte er nie, auch wenn ihm egal ist, woher ein Beweismittel stammt. Der Wahlverteidiger hat eine Mission, er wirkt wie ein Renegat. Die Trawniki hat er mit den Juden der Sonderkommandos verglichen, die Ukrainer nennt er die vergessenen Opfer des Zweiten Weltkrieges, seinen Mandanten sieht er »in der Todeszelle«. Der Pflichtverteidiger an seiner Seite hat sich schon öfter von ihm distanziert.

Es ist das letzte – eines der letzten – Verfahren über die Verbrechen des Dritten Reiches, gegen einen »Kleinsten der Kleinen«, einen »Fremdvölkischen«, den Deutsche zum Wachen und Töten abrichteten, einen kranken Mann an seinem Lebensende. Der Prozess soll mit der Tradition der deutschen Nachkriegsjustiz brechen. Von einem Paradigmenwechsel spricht Thomas Walther, bis vor Kurzem Ermittler gegen Demjanjuk bei der Zentralstelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen in Ludwigsburg. Noch 2003 wurde dort eine Anklage gegen den staatenlosen Ex-Ukrainer verworfen, weil eine konkrete Tat nicht nachzuweisen sei, der eine mörderische Akt in der großen Mordmaschine.

verachtung Anfang Februar sitzt Thomas Walther als Zeuge im Saal A101 im Münchner Justizgebäude. Sobibor sei ein reines Vernichtungslager gewesen, sein Zweck ausschließlich die Tötung deportierter Juden, einen individuellen Tatnachweis brauche es nicht, jeder, der dort eintrat, um Dienst zu tun, sei automatisch zum Mörder geworden. Als der Verteidiger dagegenhält, kann der Zeuge seine Verachtung kaum verbergen. Jeder, der im Vernichtungslager arbeitete, stand Wache und trieb die Menschen ins Gas und ist der Beihilfe zum zig- tausendfachen Mord schuldig. Das sagt der gesunde Menschenverstand – und beflügelt die Fantasie der Juristen. Es ist eine Hypothese, die aus der Blackbox Funken schlagen will, ohne Licht in sie zu lassen. Wir wissen, was in Sobibor geschah. Vielleicht werden wir wissen, ob John Demjanjuk dort war. Doch wir werden nie im Einzelnen wissen, wie er dort schuldig wurde.

Ende Februar ist Alex N. aus Landshut als Zeuge geladen, ehemaliger Trawniki, über 90, ein Rentner mit Stock und hellem Pepita-Hut, aufrechter, flinker Gang. Er kommt in Begleitung eines Dolmetschers und eines Rechtsbeistandes, auch ihm droht eine Anklage. Er kann kaum Deutsch, seit 1945 lebt er im bayerischen Landshut, das Dritte Reich hat ihn aus seiner Umgebung gerissen und mit seinem Untergang dort abgeworfen. Als er wie sein Bekannter Demjanjuk, »der Iwan«, in die USA auswandern wollte, hielt man ihn für einen Russen, und Russen wollte Amerika nicht haben. Daheim, unter Stalin, wäre er gehängt worden. Zuvor verbrachte er drei Jahre im Gefängnis, einer Pistole wegen, versteckt in einem Laib Brot. Seine Kumpane, darunter Demjanjuk, ließ man laufen.

Munition Er sei ja nie zur Schule gegangen und immer »der Narr« gewesen, ein nützlicher Idiot. Auch sein Lachen klingt närrisch, als der Richter ihn mit Fragen einkreist. Was er im Krieg bewacht habe? Eine Fabrik in Rostock, für Flugzeuge, das Bier war natürlich schlecht. Was er genau bewacht habe? Die Fabrik und die Flugzeuge. Ob da keine Menschen waren? Doch, da waren Menschen, die wurden bewacht, links ein Deutscher, rechts ein Deutscher, dazwischen der Trawniki-Mann. Was mit den Leuten war? Sie mussten arbeiten, gut ging es ihnen nicht; manche sind gestorben; einen haben sie aufgehängt, der wollte abhauen. Was er denn gemacht habe, wenn einer fliehen wollte? Wir haben aufgepasst, dass niemand flüchtete; aber das wollte keiner, die wussten, es war sinnlos; keiner konnte flüchten, deshalb hatten wir keine Munition. Der Zeuge hatte eine Waffe und keine Munition. Zuletzt tritt er ans Bett des einstigen Gefährten. Erst auf Bitten des Richters nimmt Demjanjuk die Sonnenbrille ab. Der Zeuge sagt, der Mann sei Iwan gar nicht ähnlich, damals sei er nicht so dick gewesen. Auf Fotos vom Verfahren in Israel hat er ihn noch erkannt. Eine Geisterstunde.

Akribie Das Verfahren wirkt immer wieder gespenstisch. Es wird von Juristen getragen, die mit der Tradition ihres Standes brechen wollen. Es soll Licht ins Dunkel bringen und kann sich der Blackbox doch nur nähern. Es baut auf alte Männer wie den Zeugen N., der am Mittag nicht mehr weiß, was er am Morgen sagte, und sich an die bösen Zeiten erinnert, wie es ihm passt. Gleich, ob am Ende ein Schuldspruch über John Demjanjuk stehen wird – dieser Prozess hat sich den oft klitzekleinen Tätern zugewandt, die wohl meist auch Opfer waren und nicht die Kraft oder nur den Willen besaßen, aus dem Wahnsinn auszusteigen. Die Maschinerie der Vernichtung wird noch einmal sichtbar, ihre Pedanterie und Akribie, die Aktenberge und Archive, das Heer der Mitarbeiter. Das Schicksal der Kriegsgefangenen der Roten Armee, die Täter, die nie mehr nach Hause fanden. Die zerstörten Leben und Familien. Das Leid der Opfer und ihrer Angehörigen, die als Greise noch zu Kindern werden, wenn sie den Gerichtssaal betreten.

Die deutsche Justiz hat lange gebraucht, auch die kleinen Täter ernst zu nehmen, in denen derselbe Wahnsinn aufscheint. Der Abstand zu diesem fremden Trawniki mag groß sein. Er tut seine Wirkung. Vielleicht ist er zu groß, könnte man meinen, wenn nach nur 90 Minuten der Arzt aufspringt und nach dem Angeklagten sieht, und der Richter süffisant bemerkt. »Der Angeklagte meint, es ist genug.« Ein alter Mann, der keine Lust mehr hat wegzudämmern, zurück in jene Blackbox, in die nur er Licht bringen könnte.

Der Autor ist Journalist und Schriftsteller. Sein neuer Roman »Wo wirst du sein« ist im Verlag S. Fischer erschienen (18,95 Euro).

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