Grundgesetz

In bester Verfassung?

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Im Sommer 1949 wird der jüdische Arzt Dr. Herbert Lewin zum Chefarzt der Städtischen Frauenklinik Offenbach gewählt, aber auf Initiative des Bürgermeisters und mit Zustimmung des SPD-Oberbürgermeisters sofort wieder abgesetzt. Sie sagen: Einem jüdischen Arzt, dessen Familie von den Nazis ermordet worden sei und der selbst aus dem Konzentrationslager komme, könne man keine deutschen Frauen anvertrauen. Sie warnen, der Mann werde sein Amt mit »dem Rachegefühl des KZlers« ausüben. Oder zumindest: Die Patientinnen könnten so denken.

Da platzt, weit entfernt im Bundesvorstand der SPD, dem Parteichef der Kragen. Kurt Schumacher, der selbst in Konzentrationslagern gelitten hat, weist seine Offenbacher Parteikollegen scharf zurecht. Eine solche »Rassenlehre des Opportunismus dürfen wir niemals dulden«. Und er zürnt noch weiter. Denn nicht nur der Arzt Dr. Lewin, der später zum Vorsitzenden des Zentralrats der Juden gewählt werden wird (1963–69), erlebt gerade diese Anfeindungen.

Jüdinnen und Juden werden von den Parteien fast durchgehend auf hintere Listenplätze verbannt. Angeblich, um antisemitische Wähler nicht zu verschrecken.

demokratie Es trifft auch die wenigen Jüdinnen und Juden, die sich in dieser Geburtsstunde der Demokratie mit um den politischen Aufbau kümmern wollen. Es ist Wahlkampf. Doch sie werden von den Parteien fast durchgehend auf hintere Listenplätze verbannt. Angeblich, um antisemitische Wähler nicht zu verschrecken.

So sind die ersten Erfahrungen der Juden mit dieser neuen Ordnung. Das Grundgesetz, dessen Verkündung sich an diesem Donnerstag zum 70. Mal jährt, hat zwar die Gleichheit aller, auch der Juden, in Stein gemeißelt. Diskriminierung aufgrund von Abstammung oder Glaube ist ausdrücklich verboten. Die juristische Ausgrenzung der Juden ist überwunden. Aber das ist Papier. Die Wirklichkeit hinkt hinterher.

Weit verbreitet ist in dieser Anfangszeit die Meinung, die wenigen überlebenden Jüdinnen und Juden müssten nach den Ereignissen der vergangenen Jahre wenn nicht auf Rache sinnen, so doch jedenfalls ganz andere Interessen haben als ihre nichtjüdischen Landsleute. Die Kluft zwischen jüdischen und nichtjüdischen Deutschen ist nicht überwunden. Von einer Akzeptanz wie zu Weimarer Zeit ist man weit entfernt. Ein jüdischer deutscher Außenminister wie einst Walther Rathenau oder ein jüdischer bayerischer Ministerpräsident wie einst Kurt Eisner: auf lange Sicht nicht mehr vorstellbar.

antithese Das Grundgesetz ist zwar als Antithese zum NS-Staat konzipiert worden. Gleich sein erster Artikel – »Die Würde des Menschen ist unantastbar« – ist hell wie ein Leuchtfeuer. Aber die neuen politischen Institutionen, die ins Leben gerufen werden, öffnen sich gerade für Jüdinnen und Juden nur langsam und teils widerwillig.

70 Jahre ist das Grundgesetz nun alt, das ist ein Grund zum Feiern.

Unter den 61 Vätern und vier Müttern des Grundgesetzes sind zwar zwei Männer gewesen, die aus jüdischen Familien stammen. Aber beide, der stramm konservative Walter Strauß (CDU) wie der leutselige Rudolf Katz (SPD), achten darauf, dies nicht zu thematisieren.

Der gute Jude ist der unsichtbare Jude: Walter Strauß trägt als Staatssekretär im Bonner Bundesjustizministerium, inmitten von ehemaligen NSDAP-Leuten, die freundliche Politik gegenüber Nazi-Verbrechern mit. Rudolf Katz beruft als Justizminister in Schleswig-Holstein sogar einen ehemaligen braunen Parteigänger zum Generalstaatsanwalt.

bundestag In den ersten Deutschen Bundestag, dessen knapp 500 Mitglieder im August 1949 gewählt werden, ziehen zwar drei jüdische Abgeordnete ein, allesamt aus der SPD. Aber der eine, Jakob Altmaier, ist speziell für die Aufgabe vorgesehen, als Bindeglied zu den jüdischen Gemeinden und Israel zu fungieren.

Der zweite, der politisch höher hinaus will, spricht lieber gar nicht erst von seiner Jüdischkeit. Dieser Politiker, Peter Blachstein, nennt sich im Parlamentshandbuch nun »glaubenslos«. In der NS-Zeit sei er lediglich »politisch verfolgt« worden. Der dritte, der schon erwähnte Rudolf Katz, nennt sich jetzt evangelisch.

Bald ist auch das vorbei, bald stellen die Parteien so gut wie gar keine Leute mit jüdischen Biografien mehr auf. Und bitter, aber wahrscheinlich wahr: Als 1993 der damalige Vorsitzende des Zentralrats der Juden, Ignatz Bubis, von CDU-Politikern für das Amt des Bundespräsidenten vorgeschlagen wird, da konstatiert er: »Ich glaube nicht, dass die Bundesrepublik Deutschland reif ist für eine solche Entscheidung.« Die Deutschen, so befürchtet er, würden in ihm eher einen Fremden sehen, als sich von ihm mitrepräsentiert zu fühlen. Die Unterstellung, dass Juden eher Partikularinteressen im Blick hätten, als zu einem Einsatz im Namen aller Bürger imstande zu sein, sei noch lebendig.

Dass Juden in den politischen Institutionen der Republik wie selbstverständlich willkommen geheißen werden, das beginnt erst langsam.

stabilität 70 Jahre ist das Grundgesetz nun alt, das ist ein Grund zum Feiern. Es ist die beste Verfassung, die Deutschland je hatte. Von der Freiheit und Stabilität, die es gebracht hat, haben alle Deutschen profitiert, auch die jüdischen. Aber dass Juden in den politischen Institutionen der Republik wie selbstverständlich willkommen geheißen werden, das beginnt erst langsam.

Es sind wenige Beispiele, die umso wertvoller sind. Frankfurt hat einen jüdischen Oberbürgermeister, Peter Feldmann (SPD), Schleswig-Holstein eine jüdische Bildungsministerin, Karin Prien (CDU). Für das europäische Parlament, das am Sonntag gewählt wird, kandidiert Sergey Lagodinsky (Grüne).

Man wünschte, das wäre nichts Besonderes mehr nach 70 Jahren.

Der Autor ist Jurist und Redakteur der Süddeutschen Zeitung.

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