Kippt die Stimmung oder sind es nur vereinzelte verbale Ausrutscher? Genau solche Fragen dürften sich derzeit immer mehr Juden in Russland stellen. Denn seit Beginn der russischen Invasion in der Ukraine im Februar häufen sich antisemitische Äußerungen in Politik und Medien.
Und je länger der Krieg andauert und je offensichtlicher es ist, dass das Ganze eben kein Spaziergang nach Kiew wird und die russische Armee nun sogar den Rückwärtsgang einlegen musste, desto schriller die Rhetorik.
Patriotismus So spulte Wladimir Solowjow, ein beliebter Talkshow-Moderator, der übrigens selbst jüdische Vorfahren hat, in seiner TV-Sendung eine ganze Liste von prominenten Namen runter, denen er defizitären Patriotismus attestierte. Bei allen genannten Personen handelte es sich um Juden. Parallel dazu begann man von staatlicher Seite die Aktivitäten der Jewish Agency infrage zu stellen, will sie sogar verbieten.
Auch aus der Strategic Culture Foundation, einem in Moskau beheimateten Thinktank, der von der amerikanischen Regierung als hundertprozentig Putin-nah beschrieben wird, war Unschönes zu hören. »Dieser 74-jährige französische Staatsbürger, der aus einer Familie algerischer Juden stammt, riecht Blut mit der Nase und fliegt sofort los, um es aufzusaugen –und das für gutes Geld«, wetterte dort eine Agnia Krengel, Autorin zahlreicher Beiträge der Stiftung. Gemeint war damit der bekannte Philosoph Bernard-Henri Lévy, der die Ukraine bereist und über die Gräueltaten der russischen Armee berichtet hatte.
Der Journalist Dimitry Popow veröffentlichte eine Liste bekannter Juden, die er alle als »ausländische Agenten« diffamierte.
Und in der Moskowski Komsomolez, immerhin die zweitgrößte russische Tageszeitung, präsentierte Dimitry Popow, einer ihrer bekanntesten Autoren, Mitte September ebenfalls eine Liste bekannter Juden, die er alle als »ausländische Agenten« diffamierte – ein Vorwurf, der in der Vergangenheit in Russland und zuvor in der Sowjetunion nicht selten tödliche Folgen für so bezeichnete Personen haben konnte.
Doch auch aus der politischen Führungsebene erklangen schrille Töne. Im Mai beispielsweise sorgte Außenminister Sergei Lawrow für Empörung, weil er gesagt hatte, dass Hitler wie auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj jüdisches Blut gehabt hätte und überhaupt seien »die größten Antisemiten oft selber Juden«.
Rhetorik Laut Roman Bronfman, einem ehemaligen israelischen Knesset-Abgeordneten, der sich als Politologe viel mit dem postsowjetischen Judentum beschäftigt, machte sich diese neue Rhetorik seit rund zwei Monaten zunehmend bemerkbar. Sie habe genau in dem Moment eingesetzt, als es der ukrainischen Armee gelang, den russischen Vormarsch zu stoppen und dann zur Gegenoffensive überzugehen.
»Zu dem Zeitpunkt, als plötzlich die Stabilität des Regimes nicht mehr gewährleistet schien, wurde ein jüdisches Ziel ausgewählt«, so Bronfman gegenüber der Jewish Telegraph Agency (JTA). »In mancherlei Hinsicht ist dies eine Wiederholung dessen, was mehrfach in den einzelnen Epochen der russischen Geschichte geschah, und zwar einschließlich in den letzten Tagen von Josef Stalins Regierungszeit.«
Das mag erst einmal überraschen. Denn trotz aller Wandlungen hin zu einem handfesten Despoten, der langsam aber sicher Russland in eine Diktatur umbaute, konnte man über Putin immerhin eines sagen: Ein Antisemit vom Schlage eines Josef Stalin oder Leonid Breschnew war er nicht – zumindest bis jetzt. Verwiesen wird dabei stets auf die Geschichte von seiner jüdischen Deutschlehrerin Juditskaja Berliner, die 1973 nach Israel ausgewandert war und der Putin so eng verbunden war, dass er ihr eine Wohnung in Tel Aviv kaufen ließ.
Ein Antisemit vom Schlage eines Josef Stalin oder Leonid Breschnew war Putin nicht – zumindest bis jetzt.
Antisemitische Vorfälle konnten – undenkbar in der Sowjetunion oder den Jahren nach ihrem Zusammenbruch – sogar geahndet werden. Beispielsweise landete 2019 ein Mann für seine diffamierenden Graffiti für zweieinhalb Jahre hinter Gitter und 2020 ließ die Polizei in der südrussischen Stadt Krasnodar einen Rabbiner seinen eigenen Tod vortäuschen, um zwei Terrorverdächtige in eine Falle zu locken.
Doch der Antisemitismus in Russland ist nie von der Bildfläche verschwunden, selbst par ordre du mufti wäre das nicht möglich gewesen. Und zu oft mussten in der Geschichte des Landes – egal ob im Zarenreich, der Sowjetunion oder dem Russland von Gorbatschow, Jelzin und jetzt wohl auch von Putin – Juden als Sündenböcke herhalten. Genau deswegen läuten die Alarmglocken, sobald von »mangelndem Patriotismus« oder »ausländischen Agenten« die Rede ist.
Einfluss Aber nicht nur der für Russland alles andere als nach Plan verlaufende Krieg in der Ukraine könnte dieser finsteren Chronologie aus Diskriminierung und Pogromen ein neues Kapitel hinzufügen. Denn schon länger steht Putin unter dem Einfluss eines Alexander Dugin und dessen Verschwörungstheorien. Deren roter Faden ist die Legende von einem jungfräulich reinen und unschuldigen Russland, dem der dekadente Westen seine Werte aufzwingen will.
»Dugin wirft den Juden vor, das universalistische und das demokratische Prinzip begründet und andere Völker mit verschwörerischen Methoden dazu verleitet zu haben, diesen zu folgen«, schreibt der Antisemitismusexperte Samuel Salzborn. Und warum sollte Putin nicht eine weitere Häutung durchleben und sich am Ende seines Lebens auch noch als Antisemit alter Schule erweisen? Er wäre nicht der erste in der russischen Geschichte.