Israelische und jüdische Zeitungen weltweit drucken in regelmäßigen Abständen die Namen aller Toten seit dem 7. Oktober 2023 oder erinnern durch verändertes Layout an die Grausamkeit der Situation. Beim Anblick solcher Titelseiten hält instinktiv mein Atem an. Schnell auf den Modus Weiterblättern schalten, sich gar nicht erst der Namen annehmen, die Schwarz auf Weiß abgedruckt sind, und damit des Schmerzes, dass diese Menschen für immer aus dieser Welt sind. Einfach so.
Es zeugt nicht von Ignoranz, keineswegs, bloß von verzweifeltem Selbstschutz. All diese Namen, die Individuen waren, Familien hatten, sich dem Leben hingaben. Jedes Mal der Stich ins Herz, auch beim Anblick der »Bring them home«-Plakate. Aber ich schaffe es nicht, die Seite wegzublättern, das innere Pochen wird lauter.
Und wenn es mir dann doch irgendwie gelingt, weiterzublättern, herunterzuscrollen oder zu swipen, ereilt mich sogleich das schlechte Gewissen, der Andacht der Toten nicht genügend Rechnung zu tragen. Andacht nicht im religiösen Sinne, wohl aber in dem, dass jeder Mensch, der sein Leben seit dem 7. Oktober verloren hat, es verdient hätte, weiterzuleben.
Weiter leben: So betitelte Ruth Klüger ihre vor mehr als 30 Jahren erschienene Autobiografie. Es war kein Holocaust-Buch, das ein weiteres Mal das Grauen der KZs vor Augen brachte. Es wurden nicht die brutalen Details der Schoa geschildert. Ruth Klüger reflektierte vielmehr die Auswirkungen des Erlebten auf die Entwicklung eines Menschen.
Bewältigung scheint in diesem Zusammenhang erneut das Zauberwort zu sein. Und es hat seit dem 7. Oktober wohl wieder Hochkonjunktur. Wie bewältigen wir als jüdische Gemeinschaft dieses transgenerationale Trauma, das sich seit dem 7. Oktober wieder reaktiviert hat und mit extrem scharfen Konturen versehen worden ist?
Antworten können erst in einigen Jahren geliefert werden
Antworten können wohl erst in einigen Jahren geliefert werden, wenn alles aus zeitlicher Distanz beurteilt werden kann, wenn Studien dazu verfasst worden sind, wenn die Verarbeitung des Erlebten ansatzweise abgeschlossen ist. Es bedingt wohl einen gewissen Zynismus, dies zu behaupten. Bewältigung wurde noch nicht einmal in Gang gesetzt. Tag für Tag prasseln neue – der biblische Ausdruck sei erlaubt – Hiobsbotschaften auf uns ein. Mit der Geschwindigkeit des Schreckens kann kaum Schritt gehalten werden.
Können wir als jüdische Gemeinschaft dieses Trauma überhaupt bewältigen?
Es sind nicht nur sieben Monate vergangen, seit die Hamas im Süden Israels einfiel und massenhaft Menschen folterte, ermordete oder in Geiselhaft nahm. Genauso lange ist es auch her, dass der Antisemitismus – wieder und immer noch – in seinen wildesten Auswüchsen grassiert und sich Juden an vielen Orten nicht mehr sicher fühlen. Angefangen an Orten, wo sie sich zu Hause wähnten.
In ganz Europa zeigen die Attacken auf jüdische Menschen und Einrichtungen, unabhängig davon, ob in Deutschland, in der Schweiz oder anderswo, latente Gefahren auf. Aber auch weit weg, wenn bei jüdischen Studierenden an den Elite-Universitäten in den USA die Angst wächst, denn die Unruhen an der Columbia in New York haben längst auf den Rest des Landes übergegriffen.
Dass skandierte Intifada-Parolen einschüchtern, ist evident
Die Ausweitung der Demonstrationen gegen Juden per se wird von »propalästinensischen« Aktivisten gefördert und gefeiert. Dass skandierte Intifada-Parolen einschüchtern, ist evident und führt vor Augen, wie die landesweiten Protestaktionen die Gräben in der amerikanischen Gesellschaft seit dem 7. Oktober noch tiefer als zuvor klaffen lassen.
Es ist nicht nur das äußere Sicherheitsgefühl, das seit dem 7. Oktober ins Wanken geraten ist, das bis zu diesem Zeitpunkt für Stabilität im Leben sorgte. Es ist offensichtlich auch das innere, das neu austariert werden muss. Also doch »weiter leben«? Natürlich, aber es ist ein zunehmend großer Balanceakt. Die Sorge um die USA, falls Donald Trump erneut Präsident der Vereinigten Staaten wird, der Krieg in der Ukraine sind zusätzliche Ingredienzen für die geopolitische Unsicherheit.
Wenn überdies noch Meldungen wie der Angriff Irans auf Israel die partiell aus den Fugen geratene Weltordnung noch mehr ins Ungleichgewicht bringen, bietet sich immer mehr Menschen nur noch eine Strategie an: sich den persönlichen Aspekten des Lebens hinzugeben, dem Schönen zu frönen. Trivial? Zu egoistisch? Vielleicht, für nicht wenige aber auch die einzige Möglichkeit, mit der Latenz der Bedrohung, den Folgen und der Aussichtslosigkeit des Krieges zurechtzukommen. Wenigstens für einen Augenblick.
Ich höre Menschen der älteren Generation sagen, dass das Gefühl der Bedrohung bereits in den 70er-Jahren einen Kulminationspunkt erreicht hatte – Jom-Kippur-Krieg, Ölkrise, Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan. Auch damals war die Bedrohung offensichtlich. Auch damals gab es eine bis dahin nicht oft vorgekommene Gleichzeitigkeit der globalen Krisen. Doch wir Menschen, die noch nie einen Krieg erlebt haben, lernen erst jetzt, damit umzugehen, und was es heißt, dieser permanenten Gefahr ausgesetzt zu sein, inklusive der Sorge, was als Nächstes kommt.
Wie viel ertragen wir noch? Was hat der 7. Oktober mit der Welt gemacht?