Herr Schuster, bei der Ratsversammlung am 27. November stehen turnusmäßig Wahlen auf dem Programm. Sie streben dabei eine dritte Amtszeit als Zentralratspräsident an. Warum?
Ich habe das Amt in den vergangenen acht Jahren mit Freude ausgeübt. Es ist zwar nicht alles vergnügungssteuerpflichtig, was man als Zentralratspräsident erlebt, aber ich habe das Gefühl, dass die Arbeit gelungen ist. Ich möchte die Bemühungen fortsetzen, das jüdische Leben in Deutschland weiterzuentwickeln. Und was mich besonders motiviert: Ich würde gerne als Präsident die Einweihung der Jüdischen Akademie in Frankfurt begleiten.
Sind die Herausforderungen mit Blick auf den Antisemitismus in den vergangenen acht Jahren größer geworden?
Es gab Veränderungen, leider eher negative. Beispielsweise hätte ich mir das, was wir jetzt auf der documenta gesehen oder erlebt haben, vor vier Jahren nicht vorstellen können. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass es solche Auswüchse von offenem Antisemitismus, dazu noch staatlich gefördert, geben könnte. Es droht ein Paradigmenwechsel in Kultur und Wissenschaft, wie auch die anschließende Berufung zweier Mitglieder von ruangrupa als Gastprofessoren an eine Hamburger Kunsthochschule gezeigt hat. Gleichzeitig erleben wir, wie sich das gesellschaftliche Klima in diesen unsicheren Zeiten insgesamt verändert. In Krisensituationen wird stets die Schuld bei Minderheiten gesucht, das haben wir Juden auch in der Corona-Zeit erlebt. Und in dieser Hinsicht blicke ich auch mit Sorge auf die nächsten Wochen und Monate.
Wie bewerten Sie dabei die Arbeit der Antisemitismusbeauftragten in Bund und Ländern?
Wir sehen durch ihre Tätigkeit immer wieder positive Entwicklungen. Ganz aktuell in Bayern, wo durch die Intervention des Antisemitismusbeauftragten der Generalstaatsanwaltschaft ein Urteil des Coburger Landgerichtes aufgehoben wurde, bei dem es um eine anti-israelische Comiczeichnung ging, meiner Meinung nach eine eindeutig antisemitische Darstellung. Das Bayerische Oberste Landesgericht hat nun die Verbreitung für strafbar erklärt. Die Antisemitismusbeauftragten des Bundes und der Länder machen eine gute Arbeit.
Wie empfinden Sie eigentlich Ihre Rolle als kritischer Mahner und Wächter?
Es gibt sicherlich schönere Rollen, aber ich halte es für notwendig, aus unserer Sicht auf Missstände hinzuweisen. Und die Erfahrung zeigt, dass leider notwendige kritische Äußerungen eher den Weg in die Medien finden als allgemein positive Darstellungen jüdischen Lebens.
Als besondere Herausforderung haben Sie genannt, insbesondere junge Menschen in das aktive Gemeindeleben einzubeziehen. Hat das Erfolg?
Ich sehe, dass dies dort, wo es von den Gemeinden aktiv angegangen wird, Erfolg hat. Die entsprechenden Aktivitäten der Zentralwohlfahrtsstelle und des Zentralrats sind sehr erfolgreich und bringen junge Menschen auch in die Gemeinden.
Der Zentralrat hat vor zwei Jahren Ergebnisse einer Umfrage unter Jüdinnen und Juden veröffentlicht. Haben die Erkenntnisse aus dem »Gemeindebarometer« Einfluss auf Ihre Arbeit?
Absolut, das hat einen großen Einfluss. Und wir haben das erweitert mit dem Gemeindecoaching, das auch auf Grundlage der Erkenntnisse des Gemeindebarometers aktiv Hilfe und Unterstützung bei der Optimierung des Gemeindelebens anbietet.
Sicherheit jüdischen Lebens ist ein wichtiger Punkt: Ist es gelungen, die bisherigen Schutzmaßnahmen auszuweiten?
Nach dem tragischen Synagogenattentat in Halle, das auch zu einem Wachrütteln der Politik führte, hat der damalige Bundesinnenminister Horst Seehofer in Absprache mit allen Bundesländern zunächst einmal die personellen Sicherheitskonzepte unverzüglich überarbeitet, in einer Geschwindigkeit, die ich bisher noch nicht erlebt habe. Auch die technischen Sicherheitsmaßnahmen, für die die Bundesländer zuständig sind, wurden in der Folge optimiert.
Sie erwähnten eingangs die Jüdische Akademie. Im September vergangenen Jahres war Baubeginn. Wie steht es derzeit um das Vorhaben?
Sehr gut. Wir haben eine leichte Verzögerung, was den Baufortschritt angeht. Wir sehen auch, dass sich die veranschlagten Baukosten angesichts der derzeitigen Wirtschaftslage leider etwas erhöhen. Aber ich bin optimistisch und fest davon überzeugt, dass wir in der ersten Jahreshälfte 2024 die Akademie eröffnen können. Ich erhoffe mir sehr viel Positives für die Mitglieder unserer jüdischen Gemeinden und gerade auch für die Darstellung jüdischer Themen gegenüber einer nichtjüdischen Umwelt.
Die Mitgliederzahlen jüdischer Gemeinden sind weiter rückläufig. Wie betrachten Sie diese Entwicklung?
Natürlich bin ich darüber nicht erfreut. Aber es handelt sich eben im Gegensatz zu anderen Religionsgemeinschaften im Wesentlichen nicht um aktive Austritte, sondern diese Entwicklung hat vielmehr demografische Gründe. Hier sollen das Gemeindebarometer und das Gemeindecoaching Wege aufzeigen, wie jüdische Menschen angesprochen werden können, die bisher abseits der Gemeinden stehen. Es geht zum Beispiel um den Ausbau von Jugend- und Seniorenzentren, um familienfreundliche Gottesdienste oder auch ganz allgemein um die Umstrukturierung der Gemeindearbeit.
Im vergangenen Jahr wurden 43 Menschen nach Übertritten in jüdischen Gemeinden aufgenommen. Vor einigen Wochen begann eine Diskussion zur Frage, ob die wachsende Zahl der Konvertiten ein Problem für das Judentum sei. Was denken Sie?
Das halte ich für eine Scheindebatte, auch angesichts der genannten Zahl. Aber ich denke, es ging in der Diskussion eher darum, ob Menschen, die zum Judentum übertreten, gleich geistliche Leitungsfunktionen in den Gemeinden übernehmen sollen. Das ist ein anderes Thema, aber auch das lässt sich nicht verallgemeinern. Grundsätzlich bin ich beim Stichwort Übertritte der Meinung, dass es die Rabbinatsgerichte den Menschen, die väterlicherseits einen Elternteil haben und jüdisch sozialisiert aufgewachsen sind, einfacher machen sollten, einen Giur zu absolvieren.
Der Zustrom ukrainischer Flüchtlinge hält an. Gibt es Erkenntnisse darüber, wie viele bleiben und Mitglieder der Gemeinden werden?
Eigentlich will keiner von ihnen bleiben. Aber es ist die Realität, dass viele erkannt haben, dass eine Rückkehr in die Ukraine in absehbarer Zeit nicht möglich sein wird. Und viele werden auch Mitglieder der Gemeinden, einfach, weil sie über die Gemeinden aktive Hilfe erfahren haben und ihre Mitgliedschaft auch ein Weg ist, weiterhin Unterstützung zu bekommen. Dazu kommt die erleichterte Integration, weil in allen unseren Gemeinden Menschen Russisch oder Ukrainisch sprechen. Es gibt einen größeren Zustrom vor allem in Berlin, aber konkrete Zahlen kann ich derzeit nicht nennen.
Mit Blick auf 30 Jahre Zuwanderung aus der ehemaligen Sowjetunion ist die Altersarmut vieler Zuwanderer ein immer noch drängendes Problem. Was kann getan werden?
Wir führen seit Jahren mit allen politischen Parteien und der Bundesregierung intensive Gespräche. Ich bin persönlich enttäuscht, dass die frühere Bundesregierung das Problem nicht lösen konnte. Damals hatten sich die Grünen in der Opposition sehr für eine Lösung eingesetzt. Jetzt sind sie in der Regierung, und ich sehe leider, dass sich weiterhin nur wenig bewegt. Vielmehr stellt jetzt die CDU/CSU aus der Opposition heraus entsprechende Forderungen. Aber es geht nicht darum, Forderungen zu stellen, sondern zu handeln und Mittel bereitzustellen. Was mich besonders enttäuscht: Der Bund argumentiert jetzt, die Länder seien nicht bereit mitzuziehen. Die Länder sagen hingegen, dass sie zustimmen würden, wenn der Bund ein Einzelpaket für jüdische Zuwanderer und nicht ein Gesamtpaket für andere Bevölkerungsgruppen schnüren würde. Da wird von der einen auf die andere Seite verwiesen, auf dem Rücken der Menschen, die das Geld wirklich dringend benötigen. Ich sehe hier auch die SPD von Bundeskanzler Scholz in der Pflicht, die als die »soziale« Partei schlechthin seit ihrer Gründung soziale Belange in den Mittelpunkt ihrer Politik stellt.
Es gibt Vorwürfe am Potsdamer Rabbinerseminar. Warum hat sich der Zentralrat in die Aufklärung eingeschaltet?
Wir haben als Rabbiner-Ausbildungsstätten in Deutschland das Rabbinerseminar zu Berlin für orthodoxe Rabbiner und das Abraham Geiger Kolleg sowie das Zacharias Frankel College für liberale beziehungsweise konservative Rabbinerinnen und Rabbiner in Potsdam. In Potsdam gibt es nun den von dritter Seite erhobenen Verdacht des Machtmissbrauchs, sexueller Nötigung beziehungsweise Duldung dessen. Dabei geht es nicht um die fachliche Arbeit, die, so wie ich das überblicken kann, auf hohem qualifizierten Niveau stattfindet. Diese Verdachtsmomente sind aber der Grund, warum sich der Zentralrat als größter Mittelgeber der Rabbinerausbildung mit Zustimmung der verschiedenen Einrichtungen entschlossen hat, eine renommierte und erfahrene Kanzlei mit einer unabhängigen Prüfung der Vorwürfe zu beauftragen. Dies ist in keiner Weise ein Angriff auf das liberale Judentum in Deutschland, wie Rabbiner Homolka diese Untersuchungen jetzt bewertet wissen will. Diese Äußerung ärgert und enttäuscht mich. Mir scheint, Rabbiner Homolka hat die Tragweite der Vorwürfe gar nicht erfasst.
Rabbiner Homolka beklagt eine Attacke konservativer Kreise auf das liberale Judentum, in der Union progressiver Juden ist sogar von Eingriffen in die Unabhängigkeit des liberalen Bekenntnisses die Rede. Was sagen Sie dazu?
Diese Vorwürfe sind absurd. Der Zentralrat steht für alle Denominationen des Judentums in Deutschland, ob orthodox, konservativ oder liberal. Der Zentralrat unterstützt das Abraham Geiger Kolleg und das liberale Judentum. Man darf nicht Fragen in Bezug auf einzelne Personen, auch wenn sie führende Position im liberalen Judentum in Deutschland innehaben, als Angriff auf das liberale Judentum bezeichnen. Es gibt keine Ein- oder Übergriffe in oder gegen das liberale Judentum. Selbst die der Union progressiver Juden angeschlossenen Gemeinden sehen das in der Mehrheit so. Es geht jetzt darum, die erhobenen Vorwürfe aufzuklären. Dafür müssen wir erst einmal das Ergebnis der Untersuchungen abwarten, das für die Jahreswende angekündigt ist.
Abschließend nochmals zurück zu Ihrer erneuten Kandidatur. Wie wird die Wahl ablaufen?
Erst einmal wählt die Ratsversammlung drei Mitglieder des Präsidiums, dann das Direktorium sechs. Es kann mehr Kandidatinnen und Kandidaten als die neun Plätze im Präsidium geben. Das ist ein demokratischer Prozess. Das Präsidium wählt dann aus seiner Mitte den Präsidenten.
Ist vom neuen Zentralratspräsidium eher ein Kurswechsel oder Kontinuität zu erwarten?
Ich kann dem Ergebnis der Wahl nicht vorgreifen. Doch würde ich keinen gravierenden Kurswechsel vermuten, eher eine Kontinuität im Sinne der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland.
Mit dem Präsidenten des Zentralrats der Juden sprach Detlef David Kauschke.