Wenn wir am 8. Mai das Ende der Nazi-Diktatur feiern, das 75 Jahre zurückliegt, dann tun wir dies aus einer Situation heraus, die wir uns alle so nicht hätten vorstellen können. Im Januar noch konnten wir mit Hunderten Überlebenden die Befreiung von Auschwitz feiern. Manche von ihnen haben nun den Krieg unserer Zeit, den Kampf gegen das Coronavirus und all seine Auswirkungen, nicht überlebt.
Ich denke beispielsweise an Eliezer Grynfeld aus New York, der 2017 noch Papst Franziskus in Yad Vashem treffen konnte. Doch nicht nur Holocaust-Überlebende, auch viele andere Angehörige des jüdischen Volkes werden fehlen. Etwa Michele Sciama, der ehemalige Vorsitzende der jüdischen Gemeinde in Mailand. In Großbritannien hatte die jüdische Gemeinschaft bereits Anfang April mehr als 100 Opfer zu beklagen. Dies erinnert uns doppelt schmerzhaft daran, mit welchen Herausforderungen wir es zu tun haben.
Covid-19 hat eine beispiellose globale Krise hervorgerufen. Hunderttausende sind gestorben, Millionen erkrankt, Milliarden sind in Quarantäne. Die Gesundheitssysteme sind angespannt, die Wirtschaft ist strapaziert, und viele Nationen erleben eine Prüfung, wie es sie seit 1945 nicht mehr gab. Seit vielen Wochen erschüttert die Pandemie unsere Zivilisation. Das Leben in seinen gewohnten Bahnen steht still. Die Menschheit als Ganzes findet sich vereint im Kampf gegen eine lebensgefährliche Bedrohung.
Viele Nationen erleben durch Covid-19 eine Prüfung, wie es sie seit 1945 nicht mehr gab.
Doch auch, wenn die ersten Zeichen der Hoffnung keimen, steht die Menschheit vor einer gigantischen Herausforderung. Während Regierungen auf der ganzen Welt über erste Lockerungen beraten und das Leben zaghaft, vorsichtig und schrittweise zurückkehrt, zeigt sich zugleich, dass Corona uns alle verändert hat und eine neue historische Realität schafft.
Das jüdische Volk findet sich wieder einmal an vorderster Front beim Kampf gegen eine weltweite Katastrophe. New York ist eines der größten Opfer der Pandemie, und manche seiner jüdischen Gemeinden wurden besonders hart getroffen.
Ebenso stark hat London gelitten, und auch hier war die Zahl der Betroffenen in manchen jüdischen Gemeinden besonders hoch – wie auch in anderen großen europäischen Städten, vor allem Paris, Rom, Amsterdam, Antwerpen und Moskau. Bedeutende jüdische Gemeinden erleben den Verlust und den Schmerz, die Not und die Angst.
Aber dieselben Gemeinden beweisen zugleich herausragenden Mut und Zusammenhalt. Ihre schwerste Stunde ist zugleich ihre größte. In Zeiten, wo Dunkelheit die Welt zu befallen scheint, entzünden sie das wärmende Licht von Liebe und Hingabe.
GIPFEL Genau jetzt müssen wir den Blick in die Zukunft richten. Während die Pandemie ihren Gipfel erreicht – mit all ihrer sichtbaren Zerstörungskraft – und langsam wieder abflacht, müssen wir die Schlussfolgerungen für die nahe und ferne Zukunft des jüdischen Volkes verstehen.
In den kommenden Monaten wird die jüdische Welt mit der Herausforderung konfrontiert sein, der sich alle Nationen gegenübersehen: Wie sichert man Leben und Wohlergehen und bringt zugleich die geschäftlichen und wirtschaftlichen Aktivitäten wieder zum Laufen?
Um hier das richtige Maß für das Leben im Schatten des Coronavirus zu finden, benötigen wir Sorgfalt und Einfallsreichtum, Selbstdisziplin und Kreativität. Zugleich müssen wir neue Wege finden, unser Gemeindeleben und die Erziehung unserer Kinder zu organisieren.
Die soziale Distanzierung, zu der wir alle gezwungen waren, sollte sich in ein Werkzeug der Gemeinschaftsbildung und der zwischenmenschlichen Bindung verwandeln. Wir müssen sicherstellen, dass jüdisches Leben nicht geschwächt, sondern gestärkt aus der Krise hervorgeht.
Die zweite Herausforderung ist die Solidarität. Wie jede Familie wird die erweiterte Familie des jüdischen Volkes in Krisenzeiten auf die Probe gestellt. Auf der einen Seite erhöht enormer externer Druck die internen Spannungen und verschärft die Trennlinien bis hin zum Familienzwist.
Auf der anderen Seite wird jetzt mehr denn je klar, wie sehr wir voneinander abhängig sind. Und es wird doppelt klar, dass wir das Trennende überwinden und dasjenige finden müssen, was uns eint. Und vor allem: uns gegenseitig hilft.
SOLIDARITÄT Das Virus unterscheidet nicht zwischen Orthodoxen und Reformjuden. Der wirtschaftliche Einbruch schadet Liberalen und Konservativen gleichermaßen. Und das Gebot, eine starke und vereinte jüdische Gemeinschaft zu bilden, wächst exponentiell angesichts einer Gefahr, die dies um uns herum ebenfalls tut. Deshalb ist jetzt die Stunde der Einigkeit und des Einklangs – auf dass die jüdische Solidarität eine erneute Wiedergeburt erlebt!
Wir sind es den Schoa-Opfern schuldig, erneut aufkommenden Hass gegen Juden aufzuhalten.
Die dritte Herausforderung ist der Antisemitismus. Wir wurden in den letzten Jahren Zeugen eines neuen Ausbruchs einer der ältesten und widerwärtigsten Plagen, welche die Welt je erlebt hat: des Hasses auf Juden. Die Situation verschlechtert sich gerade weiter.
Jetzt gibt es diejenigen, welche die Juden für die Verbreitung des Coronavirus verantwortlich machen wollen. Und es werden diejenigen kommen, die Juden für die kommenden wirtschaftlichen Verwerfungen verantwortlich machen wollen. Wie in der Vergangenheit, so in der Gegenwart: Eine verhängnisvolle biologische Epidemie ruft eine teuflische Sintflut an Antisemitismus hervor, die das Leben von Juden bedroht.
An dieser Front gibt es keinen Raum für Kompromisse. Wir müssen zusammenstehen wie ein Damm gegen diejenigen, die uns zerstören wollen. Wir müssen alle Juden und alle jüdischen Gemeinden schützen, die bedroht werden. Wir müssen dafür das einzige Mittel einsetzen, das dem Virus des Antisemitismus standhalten kann: Stärke, Stärke und noch mehr Stärke.
Nur wenn wir gemeinsam felsenfest stehen, können wir den wiederaufkommenden Hass, der uns überschwemmen will, tatsächlich aufhalten. Das sind wir insbesondere auch denjenigen schuldig, deren Opfer und Vermächtnis wir bewahren. Denjenigen, die geknechtet, misshandelt und ermordet wurden, weil sie Juden waren. Auch denjenigen, die die Schoa überlebt haben und uns ihr Zeugnis weitergegeben haben, auf dass wir uns nie mehr auf diese Weise zu Opfern machen lassen.
ISRAEL Die vierte Herausforderung ist der Staat Israel. In den letzten Monaten hat Israel sich dem Coronavirus auf bemerkenswerte Weise entgegengestellt. Es hat die Gefahr früher als die meisten erkannt, strenge Maßnahmen ergriffen und das Gesundheitssystem gestärkt – wofür es sogar internationales Lob bekam.
Die Israelis haben wieder einmal bewiesen, dass sie stark und widerstandsfähig sind und der Krise als eine Nation entgegentreten können. Aber die Pandemie hat auch eine unterschwellige Spannung zwischen dem jüdischen Staat und Juden in der Diaspora entstehen lassen.
Viele waren frustriert, dass sie in der Stunde der Not nicht das Land besuchen konnten, das sie als zweite Heimat sehen. Andere waren der Meinung, Israel hätte den von der Krise betroffenen Gemeinden stärker beistehen können. Die Kluft zwischen der Situation in Tel Aviv, wo man das Virus erfolgreich stillgelegt hat, und der in New York, London oder Antwerpen, wo man ihm weiterhin ausgeliefert ist, sorgt für Verärgerung.
Um sich angesichts der dramatischen Herausforderungen des Jahres 2020 zu behaupten, muss sich die jüdische Welt anders vorbereiten und neu organisieren. Die erste dringende Notwendigkeit: eine ehrgeizige Initiative, medizinische Hilfe aus Israel zu den jüdischen Gemeinden zu bringen, die vom Coronavirus besonders betroffen sind.
Zweitens: ein globaler Ansatz, dem Antisemitismus überall dort den Krieg zu erklären, wo er sein hässliches Gesicht zeigt. Darüber hinaus benötigen wir auch koordinierte Maßnahmen, sodass jüdische Gemeinden, die die schlimmsten Auswirkungen der Pandemie überstanden haben, nun denjenigen helfen können, die unter der Krankheit und dem Zusammenbruch leiden.
Vom Virus betroffene jüdische Gemeinden sollten medizinische Hilfe aus Israel bekommen.
Und nicht zuletzt müssen wir in den Gemeinden selbst intensiver Hand anlegen, und die Glücklicheren unter uns müssen denen beistehen, denen das Schicksal so grausam mitgespielt hat.
ETHOS Aber über allem müssen wir das Bekenntnis erneuern, dass einer für alle und alle für einen stehen! Wir müssen unser überliefertes Ethos der wechselseitigen Verantwortung und der Liebe zu Israel in neuem Licht erstrahlen lassen.
In der Nach-Corona-Welt wird die Globalisierung ab- und der Nationalismus zunehmen. Deshalb müssen wir jetzt handeln und den jüdischen Geist einer aufgeklärten, großzügigen, humanistischen und demokratischen Nationalität vertiefen. Und wir müssen uns versprechen, all das, was vor uns liegt, mit Mut und Entschlossenheit anzugehen – als eine vereinte, erweiterte Familie.
Der 8. Mai markiert einen für uns Juden wichtigen Wendepunkt in der Geschichte. Es ist der Tag, an dem unser größter Feind, das Nazi-Regime, endgültig besiegt wurde. Unter anderen Umständen würden wir an diesem Tag zahlreiche Veranstaltungen erleben, Politiker würden Reden halten und in die Vergangenheit blicken. Doch die Gegenwart und ein neuer Feind halten uns noch zu sehr in Atem. Aber ganz gleich, welchem Feind wir Juden uns jetzt oder in Zukunft zu stellen haben – wir werden ihn nur vereint besiegen.
Der Autor ist Präsident des Jüdischen Weltkongresses (WJC).