Mein Vater war ein stiller Mann. Er tat sich nicht hervor und blieb am liebsten im Hintergrund. Seine Leidenschaft galt der jüdischen Gemeinschaft. Er baute die kleine jüdische Gemeinde in Weiden nach dem Krieg auf und stand ihr lange vor. Im Präsidium des Landesverbands der Israelitischen Kultusgemeinden in Bayern, dem er mehrere Jahrzehnte lang angehörte, war er für eines bekannt: Schulem machen, Frieden stiften. Denn Streit gab es genug in den jüdischen Gemeinden der Nachkriegsjahrzehnte. Noch immer höre ich, wenn ich mich über andere ärgere, seine Stimme in jiddisch gefärbtem Deutsch sagen: »Nur mit gutens, nur mit gutens.«
Heute würde er sich schwertun. Die Fronten in gesellschaftlichen Debatten haben sich verhärtet. In Amerika machen Republikaner und Demokraten die jeweils anderen für den Untergang ihres Landes verantwortlich, in Israel schreien Netanjahu-Anhänger in der Knesset den neuen Ministerpräsidenten nieder, in Deutschland finden Impfgegner und Impfbefürworter keine gemeinsame Sprache.
wahrheiten Können wir überhaupt noch miteinander reden, wenn wir nicht einander zuhören, wenn wir unterschiedliche Wahrheiten aus völlig anderen, einander widersprechenden Quellen beziehen? Das Gespräch, der Dialog mit all jenen, die anderer Meinung sind, läuft dann ins Leere.
Leider ist dies auch innerhalb der jüdischen Gemeinschaft beziehungsweise bei Themen, die für diese relevant sind, der Fall. Im Zentrum befindet sich dabei zumeist die, manchmal unausgesprochene, Frage: Wie hältst du’s mit Israel? Da kursieren Unterschriftenlisten, in denen definiert wird, wer weltoffen ist, und wieder andere Listen, in denen definiert wird, wer antisemitisch ist. Wenn man sie unterschreibt, ist man für die einen ein Nestbeschmutzer, und wenn man sie nicht unterschreibt für die anderen ein Verräter.
In Israel schreien Netanjahu-Anhänger in der Knesset den neuen Ministerpräsidenten nieder, in Deutschland finden Impfgegner und Impfbefürworter keine gemeinsame Sprache.
Schlimmer noch: Wenn man mit jemandem zusammenarbeitet, der jemanden kennt, der wiederum auch schon mal etwas mit einem von der bösen anderen Seite gemeinsam gemacht hat, dann landet man schnell auf einer schwarzen Liste. Und in sozialen Medien ist man nicht scheu mit Zuschreibungen als »jüdischer Selbsthasser«, »Kapo«, »schlimmer als Hitler«. Tja, Hitler allein reicht manchen heute eben nicht mehr.
grenzen Können wir mal bitte schön einen Moment lang den Atem anhalten? Gewiss, es gibt Grenzen, die man nicht überschreiten sollte. Wer den Holocaust leugnet oder verharmlost, wer Verschwörungstheorien verbreitet, mit dem muss man nicht diskutieren. Wer das Existenzrecht Israels leugnet, dem muss man auch nicht zu Gehör verhelfen. Und wer zum Boykott aufruft, muss es auch selbst verkraften, boykottiert zu werden.
Aber wir haben begonnen, diese Grenzen immer enger zu ziehen. Zur Zielscheibe werden heute vielfach auch diejenigen, die abweichenden Meinungen zuhören und sich kritisch mit ihnen auseinandersetzen wollen.
Die Fronten in gesellschaftlichen Debatten haben sich verhärtet.
Ich halte nicht viel von Unterschriftenlisten, die Weltoffenheit für sich in Anspruch nehmen oder etwas hochtrabend den Namen Jerusalems für ihre Antisemitismusdefinition benutzen. Denn auch, wenn man sich mit diesen Erklärungen nicht identifiziert, kann man weltoffen sein und auch eine akzeptable Definition für den Antisemitismus beanspruchen. Aber wer die Unterzeichnenden gleich in die Nähe des Antisemitismus oder Antizionismus rückt, macht es sich zu leicht. Unter ihnen sind Personen, die in Kriegen für Israel ihr Leben riskiert haben, sowie Juden und Nichtjuden außerhalb Israels, die sich auf ihre Weise für jüdische Belange und israelische Interessen einsetzen.
israel Bei diesen Debatten geht es schon lange nicht mehr einfach darum, ob man für oder gegen Israel ist. Genauso wie es heute in Israel mehrere Zukunftsvisionen gibt, gibt es auch unterschiedliche Ansichten darüber, wie man Israel von außen am besten helfen kann. Wenn Politiker und Wissenschaftler entzweit darüber sind, wie wir mit Kritikern der israelischen Politik umgehen, müssen wir sie dann gleich in die BDS-Schmuddelecke schieben?
Und wenn Antisemitismusforscher sich darüber streiten, was nun die richtige Definition ist, sollte man dann nicht ihre Meinungen zumindest genau zur Kenntnis nehmen und dann darüber diskutieren, statt sich gegenseitig den Mund zu verbieten? Wenn wir uns im Kreise unserer Freunde selbst zerfleischen, freuen sich nur diejenigen, die tatsächlich antisemitische Ressentiments hegen und Israel wirklich von der Landkarte auslöschen wollen.
Wenn wir alle und jeden als Antisemiten verdammen, dann verschwimmen die Konturen des eigentlichen Judenhasses.
Wenn wir alle und jeden als Antisemiten verdammen, dann verschwimmen die Konturen des eigentlichen Judenhasses. Wir sollten sorgfältig darüber nachdenken, bevor wir jemandem dieses Etikett aufdrücken. Und wir sollten auch genau überlegen, wem wir Sprechverbote erteilen wollen. Es gibt keine allgemein gültigen Regeln, wer vom öffentlichen Diskurs auszuschließen ist. Dies muss jede Institution und jede Person für sich selbst entscheiden.
aufmerksamkeit Aber haben wir doch ruhig genügend Selbstvertrauen, um auch mit Meinungen umzugehen, die nicht den unseren entsprechen! Anstatt diese zu boykottieren oder niederzubrüllen, sollten wir lieber Gegenargumente entwickeln und artikulieren. Sonst verhilft man diesen oft marginalen Gruppierungen mit viel Geschrei genau zu dem, was sie sich selbst nicht verschaffen können: die für sie notwendige Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit.
Das Judentum ist eine Religion des Dialogs, vom Talmud bis zu Martin Buber. Dialog bedeutet nicht, dass man keine Meinung hat. Im Gegenteil: Man soll durchaus eine dezidierte Meinung haben und diese auch äußern. Aber strengen wir uns vielleicht noch ein bisschen mehr an, auch anderen Meinungen zuzuhören und ihnen mit Argumenten statt mit Geschrei und Pöbelei zu begegnen.
Der Autor ist Professor für Jüdische Geschichte und Kultur.