Die Causa Aiwanger ist auch aufgrund des Umgangs mit den Vorwürfen durch den Beschuldigten selbst noch längst nicht abgeschlossen. Gleich nach ihrer letzten Sommerpause - vier Monate vor dem endgültigen Ende ihrer Sendung, die seit 2007 im Ersten läuft - lud Anne Will nun fünf Gäste ein, die den Skandal teils etwas unbeholfen, teils souverän analysierten.
Florian Streibl, der Vorsitzende der Freien Wähler im Münchner Landtag und Sohn des früheren CSU-Ministerpräsidenten Max Streibl, der wegen der Amigo-Affäre zurücktreten musste, schien der Darstellung der Gastgeberin zu widersprechen, wonach »schwerwiegende Vorwürfe in bloße Schmutzkampagnen umgedeutet« worden seien.
Asche auf sein Haupt »Wir haben jetzt gerade Wahlkampf in Bayern. Das ist eine Erklärung dafür, dass man sich nicht hinstellt im Bierzelt und Asche auf sein Haupt streut«, so Streibl, der als Aiwangers Kollege den wenig überraschenden Eindruck erweckte, er sei zu 100 Prozent auf Schadensbegrenzung aus - eine Strategie, die aber nicht sonderlich gut funktionierte.
»Das Bierzelt ist kein Beichtstuhl, sondern der Beichtstuhl ist woanders.«
Florian Streibl, FraktionsVorsitzender, Freie Wähler
»Abgehakt ist das Thema nicht, Verletzungen und Irritationen sind entstanden, vor allem bei den jüdischen Gemeinden«, so Streibl immerhin. Hubert Aiwanger »wird da auch was machen.« Unklar blieb, ob er das geplante Treffen zwischen Aiwanger und Josef Schuster, dem Präsidenten des Zentralrates der Juden, meinte.
Dann versuchte es Streibl so: »Es ist nicht die Sache, dies (eine Aufarbeitung oder Entschuldigung, Anm. d. Red.) in einer Wahlkampfarena zu machen, sondern dies muss man mit den Betroffenen machen. Das Bierzelt ist kein Beichtstuhl, sondern der Beichtstuhl ist woanders.« Darauf entgegnete Anne Will schlagfertig: »Im Bierzelt reden Sie antisemitisch, wirklich?«
Durchaus berechtigt Auf die durchaus berechtigte Frage von Anne Will, warum der Landtag der richtige Ort sei, über Antisemitismus zu reden, aber offenbar nicht das Bierzelt, antwortete Florian Streibl, die Aufarbeitung müsse »auch woanders geschehen, nicht nur im Bierzelt«, obwohl von einer Aufarbeitung im Bierzelt bisher gar nicht die Rede sein kann.
»Es muss auch ein Zeichen kommen, ein deutliches Zeichen«, so Streibl. »Aber wenn es jetzt im Wahlkampf käme, würde es auch völlig falsch verstanden werden. Dann würde man sagen: Das macht er doch nur, weil er Wahlkampf macht.«
Das Urteil der Publizistin und Kolumnistin Marina Weisband fiel weitaus kritischer aus: »Wofür hat sich Aiwanger entschuldigt?« Dies sei nicht wirklich klar geworden. Er habe dies nicht gesagt. »Vorbildlich wäre es gewesen, es einzuräumen - und dann nimmt er uns mit auf die Reise, die in ihm in den letzten 35 Jahren passiert ist, dass er sich von einer faschistischen Hetzschrift innerlich distanziert hat, dass er verstanden hat, warum diese einzelnen Punkte so grausam waren und dass er dafür die Öffentlichkeit um Entschuldigung bittet. Das wäre vorbildliches Verhalten«, erklärte Weisband.
Jüdischer Gast »In diesem Fall ist mir egal, was der Mann vor 35 Jahren gemacht hat. Mir geht es allein darum, wer der Mann ist, der sich jetzt gerade zur Wahl stellt«, so Marina Weisband, der einzige jüdische Gast in Wills Runde. »Darum ist das ein Thema.«
Aiwangers am Tag seiner umstrittenen Entschuldigung in einem Interview getätigte Aussage, die Schoa werde gegen ihn instrumentalisiert, kommentierte Marina Weisband mit einer rhetorisch anmutenden Frage: »Verstehen Sie, wie schmerzhaft es ist für jemanden, dessen Familie von der Schoa betroffen war, zu hören, dass die Schoa gegen ihn instrumentalisiert wird, nachdem man in seiner Schultasche ein faschistischen Hass-Pamphlet gefunden hat?«
Auch betonte sie, sie sehe nicht, warum sich Hubert Aiwanger bei jüdischen Gemeinden entschuldigen sollte. »Er sollte sich bei der Allgemeinheit entschuldigen. Antisemitismus ist kein Problem der Juden. Antisemitismus ist ein Problem der deutschen Kultur.« Ein uneindeutiger Umgang werde ihm völlig zurecht vorgeworfen. Aiwanger stelle sich als Opfer von etwas dar, »in dem er nicht Opfer ist«.
Politiker und Mensch Zur Verteidigung seines Parteichefs sagte Streibl, Hubert Aiwanger sei nicht nur Politiker, sondern auch Mensch. »Als Politiker ist man es gewohnt, politisch angegriffen zu werden. Damit kann man umgehen. Wenn man aber plötzlich als Mensch angegriffen wird, über Dinge, die 35 Jahre zurückliegen: Es gibt kaum einen Politiker, der dann korrekt und richtig reagiert.«
Da komme ein gewisser Überlebensinstinkt hoch, »der im Grund dann auch zu anderen Entscheidungsprozessen führt. Und das muss man auch sehen. Es steht ja da auch eine Familie dahinter.«
Das CSU-Urgestein Günther Beckstein war ebenfalls Gast der Sendung. »Ich finde das Flugblatt unendlich blöd und verantwortungslos«, so der frühere Ministerpräsident Bayerns. »Mir bleibt eigentlich der Atem weg, wenn man dieses Flugblatt liest, weil es ja wirklich in einer Art und Weise mit den Opfern umgeht, wo man fassungslos ist.«
»Der Umgang von Aiwanger mit diesen Vorwürfen ist auch alles andere als vernünftig und professionell«, erklärte Beckstein. »Er hat ja wochenlang offensichtlich Gelegenheit gehabt, Stellung zu nehmen. Warum er das nicht gemacht hat, ist mir absolut rätselhaft. Er hat da wirklich nicht vernünftig, nicht einsehbar gehandelt.«
Nicht überzeugend Aiwanger sei auf die Idee gekommen, sich zu entschuldigen, wenn auch nicht in einer eindeutigen Form, erklärte der CSU-Politiker. »Herr Schuster und Frau Knobloch haben dazu ja schon klare Worte gefunden - weil es eben ein Herumgeeiere ist. Von daher muss ich sagen: Es ist alles nicht überzeugend.«
Es folgte der nahtlose Übergang zum Verhalten von Becksteins Nachfolger Markus Söder: »So wie Söder das gehändelt hat, war es richtig. Es war richtig, zuerst schriftliche Antworten zu verlangen, wenn es um so wesentliche Vorwürfe geht.« Gemeint war die Liste mit 25 Fragen, die Aiwanger nur zum Teil beantwortete - angeblich wegen Erinnerungslücken.
»Aiwanger hat die demokratische Reife, die man von einem Mann im Staatsamt erwarten muss, vermissen lassen.«
Roman Deininger, Süddeutsche Zeitung
Trotz der Lücken und mageren Antworten sei es richtig gewesen, Aiwanger im Amt zu belassen, sagte Beckstein. »Andernfalls wäre in der Tat die Reaktion völlig falsch gewesen, weil Leute sagen: Ich will auch nicht, dass meine Jugend-Dummheiten dann in die Öffentlichkeit gezerrt werden, wenn ich irgendwo an eine bestimmte Stelle komme.«
Zwei Ebenen Die Politikwissenschaftlerin Nicole Deitelhoff, der vierte Gast bei Anne Will, betonte, man müsse hier zwei Ebenen auseinanderhalten: »Dass er mit 16 oder 17 Jahren dieses Flugblatt in seinem Schulranzen hatte, das ist die eine Sache. Da muss man einfach sagen: 35 Jahre sind eine lange Zeit und wir müssen immer davon ausgehen, dass das, was jemand vor so langer Zeit gemacht hat, nicht mehr das ist, was jemand heute machen würde. Dass sich jemand ändern kann, würde man eigentlich immer unterstellen.«
Dann kam Deitelhoff auf den zweiten Aspekt, nämlich den Umgang, zu sprechen: »Da ist etwas ganz anderes passiert.« Die ganze Zeit über habe er mit einer Doppelstrategie argumentiert. Aiwanger habe versucht, seine Rolle herunterzuspielen, indem er gesagt habe, es gebe diese Schmutzkampagne gegen ihn, er solle persönlich und politisch fertiggemacht werden. »Damit wird dann dieser ursprüngliche Vorfall - völlig egal, ob er das Flugblatt verfasst habe oder nicht - zu einer Lässlichkeit.«
Das eigentliche Übel sei laut Aiwanger nicht mehr das Flugblatt, sondern vielmehr das, was diese Menschen, diese Kampagnen, diese Medien mit ihm angerichtet hätten, sagte Nicole Deitelhoff: »Da lässt er politische Tugenden tatsächlich vermissen: Anstand, Verantwortungsbewusstsein für seine Taten und das, was sie bewirken.«
Außerhalb von Bierzelten In der öffentlichen Debatte werde es so dargestellt, als gehe es hier um eine »ästhetische Stilkritik« - nach dem Motto »der Mann ist ungeschickt, also außerhalb von Bierzelten findet er nicht die richtigen Worte«.
Nicole Deitelhoff zufolge ist das richtig: »Es ist sicherlich so, dass er vor allem in Bierzelten gut wirkt und außerhalb vielleicht nicht immer den richtigen Ton trifft, aber darum geht es nicht. Es geht um die Art der Kommunikation, die er anregt und er macht sie ganz bewusst. Er macht aus diesem Flugblatt, aus der Tatsache, dass es damals bei ihm gefunden wurde, eine Kampagne gegen ihn.«
Roman Deininger von der Süddeutschen Zeitung, der fünfte Gast, der Aiwanger auch als Reporter jahrelang beobachtete, half bei der Einordnung des Chefs der Freien Wähler: Ein Antisemit sei dieser sicherlich nicht. Allerdings führe »eine direkte Linie« von seiner Reaktion auf den Flugblatt-Skandal zu seiner umstrittenen Erdinger Rede im Juni.
Dort hatte er die Bundesregierung in der Diskussion um das Heizungsgesetz der Ampel auf Bayerisch entgegengerufen: »Ihr hoabts wohl den Arsch offen!« Auch hatte er gesagt, die Wähler müssten sich die »Demokratie zurückholen«. Bei beiden Gelegenheiten habe Hubert Aiwanger »die demokratische Reife, die man von einem Mann im Staatsamt erwarten muss, vermissen lassen.«