70 Jahre Befreiung

»Ich habe nie Hass empfunden«

Auf den Wegen werden die Regenpfützen immer größer. Die Besucher ziehen sich dünne durchsichtige Plastikcapes über, die sie von den Helfern bekommen haben. Um Eitelkeiten geht es an diesem Tag nicht. Rund 1000 Menschen sind auf das Gelände der KZ-Gedenkstätte Dachau gekommen, unter ihnen 130 Überlebende. Um sie und ihr Erleben geht es heute an diesem von Erinnerungen schweren Ort.

Zum 70. Jahrestag der Befreiung des KZs Dachau durch Truppen der US-Armee hat das Comité International de Dachau (CID) zusammen mit der Stiftung Bayerische Gedenkstätten die Überlebenden des Konzentrationslagers eingeladen. Sie bringen ihre Angehörigen mit, reisen aus 20 verschiedenen Ländern an.

Dass neben dem Bayerischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer mit Angela Merkel zum ersten Mal auch eine amtierende Bundeskanzlerin bei einer Gedenkfeier der KZ-Gedenkstätte anwesend ist, hat Gewicht. Das bedeutet auch den Überlebenden etwas. Sie hätten Merkels Kommen mit »außerordentlicher Wertschätzung« aufgenommen, sagt Gabriele Hammermann, Leiterin der Gedenkstätte. Es sei ein Zeichen, das zähle.

Viele Gäste benötigen Rollstühle. Von irgendwoher werden immer mehr herangebracht. Sie werden durch den aufgeweichten Boden gestemmt oder gezogen. Auch das nur eine Nebensächlichkeit.

Zeitzeuge Die Gedenkstätte hat mehrere Eingänge. Die Gäste drängen hier wie da herein. Max Mannheimer nicht. Er ist auf einmal da. Er gehört zu diesem Tag, er gehört zu den Überlebenden, er gehört zum Gedenken. Der 95-Jährige ist unermüdlich als Zeitzeuge unterwegs. Ohne Unterlass. Er kennt Dachau – auch als Gefangener. Geboren wurde er 1920 in Neutitschein in Nordmähren, 1943 wurde er zunächst nach Theresienstadt, Auschwitz und ins KZ Warschau deportiert. 1944 kam er nach Dachau. Vor zwei Jahren hatte Mannheimer die Bundeskanzlerin eingeladen, die Gedenkstätte zu besuchen. Sie kam. Max Mannheimer ist eine Instanz.

Er redet nicht viel. Er schaut. Bedeutet seinem stetigen Begleiter, der den Rollstuhl, in dem er sitzt, über den aufgeweichten Boden schiebt, mit einem kurz nach oben gestreckten Zeigefinger, dass es etwas zu melden gibt. Mit einem lebendigen »Platz da!« weiß Mannheimer sich Freiraum zu schaffen, wenn’s zu langsam geht. Gerade rechtzeitig an der jüdischen Gedenkstätte angekommen, möchte es keiner versäumen, ihn zu begrüßen.

Herzlichkeit Dann ist plötzlich auch die Bundekanzlerin da, freudig empfangen von den übrigen. »Wie geht es Ihnen?«, fragt Mannheimer sie. »Eigentlich will ich wissen, wie es Ihnen geht«, antwortet Merkel. Die Begrüßung ist herzlich. Kurz, aber merklich umschließt die Bundeskanzlerin Mannheimers Hand mit beiden Händen. »Max«, ruft der Münchner Oberbürgermeister Dieter Reiter munter und steuert auf ihn zu. Und würde man ihn fragen, er würde sagen: Ja, es ist ein großes Glück, Max Mannheimer kennen zu dürfen«. Menschen, die sich nur kurz bei Max Mannheimer vorstellen, platzieren sich neben ihn und lassen sich mit ihm fotografieren.

Der offizielle Teil beginnt. Josef Schuster, der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, fordert in seiner Ansprache, dass es für alle Schüler in Deutschland verpflichtend sein sollte, eine KZ-Gedenkstätte zu besuchen. Wenn Schüler sich in Briefen mit Fragen an ihn wenden, »dann beantworte ich jede«, hat Max Mannheimer vor ein paar Tagen im Bayerischen Fernsehen gesagt und gleich die nächsten Schulbesuche mit den dort anwesenden Schülern geplant. Die Sorgen und Warnungen, die eindringlichen Appelle, die in Schusters wie auch in der Rede von Charlotte Knobloch, Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, Ausdruck finden, sind ihm nicht fremd.

»Wenn ich darauf blicke, wie heute einige Bürger gegen Flüchtlinge hetzen oder wie abwertend über Juden gesprochen wird, dann frage ich mich: Wie sehr ist das hohe Gut der Menschenwürde eigentlich noch in den Köpfen verankert?«, fragt Schuster. Wie Knobloch nimmt er die Gedenkstunde zum Anlass, auf verräterische Anfänge von Judenhass, die mehr als nur Anzeichen sind, hinzuweisen. »Kein Mensch wird als Antisemit geboren«, sagt Schuster. Judenhass entsteht in einer Gesellschaft, die ihn entstehen lässt.

Sorge »In wachsender Sorge«, nimmt Charlotte Knobloch wahr, »wie salonfähig Antisemitismus wieder ist«. Dass »die Reaktion der Politik auf antijüdische Exzesse eindeutig und entschlossen war«, steht für sie außer Frage und dennoch, »zu oft, scheint mir, reden die politischen Eliten an großen Teilen der Gesellschaft vorbei«. Kurz berührt sie die Welt, aus der Max Mannheimer kommt, an die er sich noch erinnert, wie er sich an überhaupt alles erinnert. »Das deutsche Judentum, wie es Anfang des 20. Jahrhunderts seine Blütezeit erlebte, wird es nicht mehr geben. Dieses Judentum hat an Orten wie diesem aufgehört.«

Mannheimer macht sich auf den Weg. Während ihm diese Stimmen von Jungen und Mädchen aus bayerischen Gemeinden nachhallen, die den anderen Überlebenden, den Psychologen Viktor E. Frankl zitieren. Frankels Worte, der »... trotzdem ›Ja‹ zum Leben sagen« konnte, hört Mannheimer von fern – auch das Kaddisch von Rabbiner Josef Chaim Bloch aus Regensburg. Und wieder ruft er: »Aus der Bahn!«. Vor dem ehemaligen Krematorium wird der 95-Jährige seine Rede halten, und da will er vor den anderen ankommen.

So schnell geht es dann aber doch nicht. Er trifft »Kameraden«, andere Überlebende. Der Zeuge dieser Begegnungen, den Welten von dem in den Lagern Überstandenem trennt, hat das Gefühl, dass hier jedes beschreibende Wort für Erlittenes überflüssig ist. Und wenn doch gesprochen wird, dann in vielen Sprachen. »Max ist multilingual«, sagt jemand.

Die politischen Vertreter sind angekommen, sie setzen sich: Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer neben Angela Merkel, neben ihr Max Mannheimer. Eine strahlende Umarmung folgt noch von Reinhard Marx, dem Erzbischof von München und Freising und Vorsitzenden der deutschen Bischofskonferenz. Alles gibt und nimmt Kraft im selben Augenblick.

Lehren Mannheimer ist besorgt. In seiner Rede bangt er um die »Lehre«, die man aus der Katastrophe gezogen hat. Sind die »humanen Werte« gewachsen, sind sie verlässlich? Eine rhetorische Frage. Der KZ-Überlebende spricht den Einzelnen an, lässt ihn nicht aus der Pflicht, »klar Stellung zu beziehen« gegen Feindbilder jeder Art. »Das Verbindende ist stärker als das, was uns trennt.« Er geht, gestützt auf beiden Seiten, zurück auf seinen Platz, beugt sich zu Angela Merkel, dankt ihr fürs Zuhören. »Ich danke Ihnen«, antwortet Merkel.

Im großen Zelt auf dem ehemaligen Appellplatz sitzen sie wieder nebeneinander, wieder in der ersten Reihe. Manche Gäste wechseln ein paar Worte mit der Bundekanzlerin und dann auch mit Mannheimer, manche sprechen ihn auch als Ersten – vor der Kanzlerin – an.

Was zu den besonders eindringlichen Erinnerungen der ehemaligen KZ-Häftlingen von Dachau gehört, ist die Befreiung durch die amerikanische Armee, ihr wird – auch sechs US-Veteranen nehmen an dem Gedenken teil – bei dieser Feier von allen Seiten größter Respekt und unermessliche Dankbarkeit entgegengebracht.

Jugend Max Mannheimer war in der Nähe von Tutzing am Starnberger See befreit worden, wo er sich nach der Evakuierung des Lagers Mettenheim zusammen mit anderen in einem Güterwaggon befand. »Wir hörten, wie die Riegel unserer Waggons von außen weggeschoben und die schweren Türen geöffnet wurden. In dem immer breiter werdenden hellen Spalt sahen wir Soldaten in amerikanischer Uniform. Dieses Mal war es Gewissheit: Wir waren frei«, heißt es in seinen Erinnerungen.

Überlebenden ist gemeinsam, dem Tod entronnen zu sein. Mannheimer verlor in den Lagern seine Eltern, seine damalige Ehefrau, seine Schwester und zwei seiner Brüder. Nur sein jüngerer Bruder und er überlebten. Dennoch sagt er heute: »Ich habe nie Hass empfunden.«

Angela Merkel kann die Menschen erreichen, auch Max Mannheimer. Sie sagt, dass die Berichte der Überlebenden jungen Menschen die Möglichkeit böten, »nackte Zahlen und Daten mit Gesichtern und Namen und einzelnen Lebenswegen zu verbinden«. Und auch Angela Merkel warnt vor dem neuen Antisemitismus.

Das wichtigste Gerät in seinem Haus sei das Telefon, sagt Max Mannheimer. Am Telefon macht er die nächsten Vorträge und Interviews fix. Immer wieder wird in diesen Tagen die bange Frage gestellt, wie es sein wird, wenn es keine Zeitzeugen mehr gibt. Max Mannheimer ist 95 Jahre alt und es gibt ihn.

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