Herr Cohn-Bendit, Sie sind dieser Tage ein gefragter Mann. 50 Jahre 1968 – das Jubiläum des Revoltejahres ist in aller Munde. Sie haben allerdings schon vor zehn Jahren ein Buch mit dem Titel »Forget 1968« geschrieben. So richtig gefruchtet hat Ihr Aufruf offenkundig nicht.
Na gut, die Leute machen, was sie wollen. Aber ich selbst will eigentlich nicht mehr über ’68 reden. Das habe ich so oft getan, es gibt nichts Neues zu sagen. Deswegen müssen Sie sich schon andere Fragen überlegen. Ich rede nicht mehr über ’68.
Das könnte unser Gespräch etwas erschweren.
Ja, aber ich habe es doch auch Ihnen und allen anderen gesagt. Man muss es doch mal ernst nehmen, dass ich nicht über ’68 reden will. Ich habe das doch 49 Jahre lang gemacht. Jetzt muss man es doch allmählich akzeptieren.
Aber Sie können sich doch sicher sein, dass Sie spätestens in zehn Jahren wieder danach gefragt werden.
Es nützt ja nichts. Wenn ich tot bin, werde ich vermutlich auch noch danach gefragt werden. Aber alles, was ich dazu sagen konnte, habe ich gesagt.
Der Fluch aller Zeitzeugen …
Ja, aber ich bin nun wirklich ein Zeitzeuge, der oft genug bezeugt hat. Darum ist es jetzt vorbei.
Nun haben wir als Jüdische Allgemeine natürlich einen etwas anderen Fokus. Bereits vor einiger Zeit ist ein Buch mit dem Titel »Der jüdische Mai ’68« erschienen. Darin werden Sie in eine Reihe mit dem Revolutionär und Guerillakämpfer Pierre Goldman und mit dem Philosophen André Glucksmann gestellt. Fühlen Sie sich in dieser Gesellschaft wohl?
Es ist nicht an mir, das zu bewerten. Ich kannte beide, und speziell mit Glucksmann hat mich später noch viel verbunden. Im Mai ’68 war er Maoist – ich nicht. Die Interpretation des Autors, dass wir als Protagonisten jüdischer Herkunft die Revolte geprägt haben, ist interessant. Aber im Prinzip müssen Sie ihn danach fragen, nicht mich.
Pierre Goldman wird der Ausspruch zugeschrieben: »Nichts an mir ist wirklich jüdisch, aber es ist der Umstand und die Bedingung meines Lebens.« Können Sie diesen Satz auch für sich unterschreiben?
Jüdischsein bedeutet ja nicht unbedingt religiös. Goldman war ein Revolutionär und den Revolutionären speziell in Südamerika sehr verbunden. Er war nicht gläubig, aber durch seine Familie und ihre Geschichte geprägt. Er war ein Jude der Diaspora. Das ist etwas, das man nicht einfach abschütteln kann. Das gilt – auch wenn ich ein ganz anderer Mensch bin mit einer ganz anderen Geschichte – irgendwie auch für mich.
Hat Ihre jüdische Herkunft denn im Mai ’68 irgendeine Rolle gespielt?
Nein, gar keine. Die Interpretation des Autors des genannten Buches ist ja gerade: Obwohl es keine Rolle gespielt hat, hat es eine Rolle gespielt. Und er versucht, das anhand unserer Biografie zu begründen.
Dennoch wurde Ihre jüdische Herkunft in den Auseinandersetzungen 1968 mehrfach thematisiert. Auf der einen Seite der Generalsekretär der Kommunistischen Partei, der Sie als »deutschen Anarchisten« bezeichnete, was zumindest im Subtext als Anspielung auf Ihre jüdischen Wurzeln verstanden wurde. Auf der anderen Seite demonstrierten nach Ihrer Ausweisung aus Frankreich Tausende unter dem Motto »Wir sind alle deutsche Juden«.
Es waren Zehntausende. Ja, die Kommunisten haben mit dieser Bezeichnung »deutscher Anarchist« versucht, sowohl antideutsche als auch antijüdische Ressentiments zu bedienen. Viele haben das auch so verstanden. Deshalb konnten sich später so viele, die sich mit der Revolte identifiziert haben, unter der Parole »Wir sind alle deutsche Juden« sammeln.
Sie sagen, in Frankreich habe Ihr Jüdischsein keine Rolle gespielt. War das in Deutschland, nach Ihrer Ausweisung aus Frankreich, ein Thema?
Nein, war es nicht. Zumindest nicht in den linken Zusammenhängen. Als ich aber nach Frankfurt kam, kam ein alter Bekannter meines Vaters – der ja schon verstorben war – auf mich zu. Er meinte, in Deutschland sollte ich als Jude lieber nicht Politik machen, nicht auffallen. Das war die Einstellung vieler in Deutschland lebender Juden damals. Nach dem Motto: Man weiß ja nicht, was noch in diesen Deutschen steckt. Deshalb: Hier leben, ja. Aber nicht auffallen.
Dabei waren viele Theoretiker, auf die sich die 68er beriefen, selbst Juden: Adorno, Horkheimer und so weiter. War es denn eine bewusste Entscheidung, das nicht zu thematisieren?
Na ja, Horkheimer hat darüber geschrieben. Aber alle, die damals eine Rolle gespielt haben – ob als Handelnde oder Theoretiker –, haben eben nicht in den Vordergrund gestellt, dass sie Juden sind. So ist es.
Das Ende der 60er-Jahre war ja nicht nur von der Studentenrevolte geprägt. 1967 kam es zum Sechstagekrieg. Israel wurde damit endgültig zum Feindbild der anti-imperialistischen Linken.
Zum Teil war das so.
Wie haben Sie das damals erlebt?
Ich war damals sehr gespalten. Natürlich habe ich verstanden, dass sich die Israelis verteidigen mussten. Aber den Nationalismus, der dadurch gestärkt wurde, empfand ich als Gefahr für die demokratische Substanz Israels. Damals schon. Das hat sich leider als richtig erwiesen. Wenn man sich die heutige israelische Gesellschaft ansieht, dann ist sie tief gespalten. Und wenn man zurückblickt, wir sprechen ja hier von einem Zeitraum von 50 Jahren, dann hat sich die Situation für Israel nicht ansatzweise verbessert. Und daran haben sowohl die Führung der Palästinenser als auch die israelische Politik Schuld.
War es denn in den 70er-Jahren in der deutschen Linken möglich, differenziert über den Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern zu diskutieren?
Natürlich konnte man das diskutieren. Ich selbst habe für mich ja immer in Anspruch genommen, weder Zionist noch Antizionist zu sein. Ich bin Azionist. Ich bin ein Jude aus der Diaspora, der auch in der Diaspora leben will. Israel hingegen ist ein Nationalstaat.
Heute wird sehr kontrovers über linken Antisemitismus debattiert.
Es gibt überall Antisemitismus. In der Linken, in der Rechten. Und es gibt auch überall Rassismus. Es gibt eben auch in Israel Rassismus. Es gibt keine menschliche Gemeinschaft, die frei wäre von diesen Gefahren. Das ist eine Binsenweisheit. Wenn man links ist, ist man nicht per definition gefeit gegen Antisemitismus. Aber wenn man Jude ist, ist man ebenso nicht per definition frei von Rassismus.
Gab es denn einen Punkt, ab dem in der deutschen Linken über linken Antisemitismus geredet werden konnte?
Entschuldigen Sie, aber da kriegen Sie mich nicht hin, zu derart pauschalen Aussagen! Da können Sie reden, wie Sie wollen. Ja, es gab unerträgliche Positionen in der Linken, das habe ich immer gesagt. Und zum Teil hatten sie eine antisemitische Dimension. Das gab es. Aber eben genauso, wie es ganz schlimme Positionen gibt, die in den jüdischen Gemeinden vertreten werden oder in Israel. Beides ist wahr!
Wenn wir schon von schlimmen Positionen reden – macht Ihnen der anhaltende gesellschaftliche Rechtsruck Sorgen? Immerhin geht es hier um die Wiederbelebung von Positionen, gegen die Sie und Ihre Mitstreiter seinerzeit revoltiert haben.
Es gibt einen Teil der Gesellschaft, der nach rechts rückt, das stimmt. Jener Teil, der von der Globalisierung verunsichert ist, von der Einwanderung. Diese diffuse Angst schafft rechtes Potenzial. »Angst essen Seele auf« wusste schon Fassbinder. Aber es gibt ja – wir haben es in der Flüchtlingskrise gesehen – auch einen großen Teil der Gesellschaft, der anders denkt. Und ich will nicht die gesamte deutsche Gesellschaft nur auf diesen Rechtsruck reduzieren. Es gibt ihn, aber es gibt ebenso die Stärkung einer linken, linksliberalen, humanitären Öffentlichkeit.
Dem Gang nach rechtsaußen haben sich derweil auch ehemals prominente Linke Ihrer Generation angeschlossen.
Ach, hören Sie auf! Warum sollten Linke gegen solche Entwicklungen gefeit sein? Wenn Gerhard Schröder zum Putin-Fan mutiert, ist das auch alles andere als schlau. Und was Seehofer seit Neuestem von sich gibt, ebenso. Wenn Sie sagen wollen: Es gibt dumme ehemalige Linke, antworte ich: Ja, stimmt!
Macht es Sie nicht persönlich wütend, wenn Leute diesen Weg beschreiten, die einmal politisch auf Ihrer Seite standen?
Im Laufe meines politischen Lebens habe ich viele Auseinandersetzungen austragen müssen, die mich auf Linke wütend gemacht haben. Aber mich nervt diese Fokussierung auf die Linke: Jetzt haben wir sie, die sind auch Antisemiten. Jetzt haben wir sie, da gehen Linke über zur Rechten. Reduzieren Sie es doch nicht so!
Für die jüdischen Gemeinden steht Pessach vor der Tür …
Ich esse Mazzen das ganze Jahr über.
Das sollte aber gar nicht die Frage sein.
Aber das ist meine Antwort. Ich finde Mazzen mit Butter und Honig oder Käse wunderbar. Das ganze Jahr esse ich Mazzen. Aber sonst sind weder Pessach noch die anderen jüdischen Feiertage etwas, das mich besonders bewegt.
Trotzdem sollte die Frage lauten: War 1968 für Sie eine Art Pessach? Eine Befreiung?
Das Jahr war eine ganz spannende, wunderbare, auch widersprüchliche Zeit. Eine sehr schöne Zeit. Aber sie ist vorbei. Und auf die Idee, das mit Pessach zu vergleichen, wäre ich nicht gekommen.
Dann können Sie wohl auch mit der Frage, ob Sie sich damals vielleicht ein bisschen wie Moses gefühlt haben, wenig anfangen?
Ich bin weder Moses noch sonst etwas gewesen. Ich war das Kind von zwei deutschen Juden, die 1933 aus Deutschland geflohen sind, weil mein Vater als Anwalt Linke verteidigt hat. Ich bin neun Monate nach der Landung der Alliierten in der Normandie geboren. Also, ich bin der Daniel, Dany, und da ist noch mein Bruder Gabriel, der Gabbi. Und wir sind weder Moses noch David noch Bar Kochba – oder was immer Sie gerne in mir sehen wollen.
Daniel Cohn-Bendit, geboren am 4. April 1945 in Montauban (Frankreich), wurde Cohn-Bendit im Mai 1968 einer der Sprecher der Pariser Studentenbewegung und aus Frankreich ausgewiesen. In den 70er-Jahren wirkte er in der Frankfurter Spontiszene. Später war er bei den Grünen, unter anderem als Dezernent für Multikulturelles in Frankfurt. Von 1994 bis 2014 gehörte er dem Europaparlament an.