Herr Matviyets, zum Prozessauftakt gegen den Halle-Attentäter hatten sich am Montag vor dem Gericht in Magdeburg Nebenkläger und Unterstützer versammelt. Welche Stimmung haben Sie wahrgenommen?
Ich habe eine große Frustration gespürt, weil offenbar erst dieser ungeheuerliche Anschlag passieren musste, ehe das Thema die politische Tagesordnung aufschreckte.
Rücken die Menschen näher zusammen?
Unter den etwa 150 Teilnehmern der Kundgebung herrschte Solidarität. Viele kamen mit Israelfahnen. Aber machen wir uns nichts vor: Es ist nicht die breite Zivilgesellschaft, die sich für das Thema interessiert, sondern es sind ohnehin politisch Aktive – und Minderheiten, die es betrifft.
Der Anschlag hat also nicht zu einem stärkeren Bewusstsein geführt?
Nein. So wie der Mord an Walter Lübcke und der Anschlag von Hanau nicht das Wissen verankert haben, dass Hetze in Gewalt und Mord mündet, hat auch das Attentat vom 9. Oktober nicht dafür sensibilisiert, dass Juden sich permanent bedroht fühlen. Ich spüre eine größere Aufmerksamkeit, ja, aber keinen grundlegenden Wandel.
Woran liegt das?
Es fehlt eine couragierte Zivilgesellschaft, insbesondere in Ostdeutschland. Der Anschlag von Halle wird auf ein »Minderheitenproblem« reduziert. Dass Antisemitismus und Rassismus das Problem aller sind, erreicht die breite Gesellschaft einfach nicht. Die Menschen fühlen sich nicht betroffen.
Ist dieses Desinteresse Teil des Problems?
Die deutsche Gesellschaft ist alles andere als homogen – das blenden viele Menschen in Sachsen-Anhalt aus. Aber es wird ihnen auch widergespiegelt, denn Personen des öffentlichen Lebens mit Migrationshintergrund kann man hier an einer Hand abzählen. Solange Juden und andere Minderheiten als isoliert, nicht zugehörig empfunden werden, wundert mich das Desinteresse nicht.
Wie kann man das ändern?
Es müsste viel deutlicher und vehementer vermittelt werden, dass Deutschland eine vielfältige Gesellschaft ist – und es vor 1933 war! Unsere Unterschiede sind nicht irgendwelche Spleens, sondern Aspekte des respektvollen, sensiblen Zusammenlebens.
Welche Fragen bewegen die Menschen vor Ort, die der Prozess klären soll?
Wie sich der Täter so radikalisieren konnte. Es kann in seinem Umfeld kein Geheimnis gewesen sein. Die Gefahr sehe ich in diesen Räumen, in denen Menschenhass hemmungslos verbreitet wird, ohne dass jemand widerspricht oder eingreift.
Was erhoffen Sie sich sonst vom Prozess?
Dass der Attentäter für seine Tat eine angemessen harte Strafe bekommt. Und klar wird, dass der Rechtsstaat an dieser Stelle funktioniert – wenigstens im Nachhinein.
Mit dem Hallenser SPD-Politiker und Gemeindemitglied sprach Katharina Schmidt-Hirschfelder.