Heinz Hesdörffer erzählt gern. Und wenn sein Zuhörer genügend Zeit mitgebracht hat, auch viel. Manchmal aber wird der alte Mann still: Immer dann, wenn ihm etwas sehr zu Herzen geht, um weiterzusprechen. Dann schweigt er und blickt in die Ferne, nimmt sich für seine Gedanken eine kurze Auszeit.
Wenn der fast 93-Jährige gefragt wird, was er bei antisemitischen Angriffen empfindet und wie er die vielen aktuellen Anschläge kommentiert – dann tritt solch ein Schweigen ein. Hesdörffer sagt nichts, nur sein Kopf und die Schultern sind kurz in Bewegung. Doch schnell hat er sich gefangen und prophezeit seinem Gegenüber mit fester Stimme, dass sich dieser »Dschihadismus über ganz Europa ausbreiten wird – und auch über die USA«.
Boykott Und die Assoziation führt ihn sofort ins Jahr 1933. Hesdörffer erzählt vom Boykott jüdischer Geschäfte in seiner Heimatstadt Bad Kreuznach und von seinem letzten Geburtstag in einem normalen Leben: »Ich war zehn geworden, und der Dieter und der Eberhard, beide Söhne von Ärzten, sind wie immer auf unserem Sofa rumgehopst. Ein paar Wochen später haben sie mich nicht mehr gekannt.«
Geduldet wurde er von seinen Mitschülern zunächst nur noch, »weil sie die Hausaufgaben abschreiben« wollten. Zwischendurch wurde er in den Mülleimer gesteckt und die Kinder feixten: »Jud, Jud, scheiß in die Tut. Aber scheiß sie nicht zu voll, sonst kriegt dein Vater ein Protokoll.« Der Schmerz über dieses Spottlied hat sich dem alten Herrn ins Gedächtnis gebrannt.
Hesdörffers Vater, der bereits 1934 gestorben war, hatte eine Schokoladen- und Zuckerwarenfabrik. Joseph Goebbels war ein oft gesehener Gast im Hause seines Onkels. Doch weder Vermögen noch Protektion nutzten dem Schüler Heinz Hesdörffer: 1938 wurde er der Schule verwiesen. So lebte er fortan bei Tante und Onkel in Frankfurt, um die jüdische Schule im Philanthropin besuchen zu können. Doch nach der Pogromnacht wurde der nunmehr 16-Jährige gemeinsam mit seinem jüngeren Bruder Ernst mit einem Kindertransport nach Holland geschickt.
Hesdörffers Bruder lebte bei einer Rabbinerfamilie mit drei Kindern. Als der Rabbiner verhaftet wurde, »habe ich meinem Bruder gesagt, er soll sich verstecken. Aber er wollte der Rabbiner-Frau zur Seite stehen.« Ernst Hesdörffer wurde verhaftet und ins Durchgangslager Westerbork gebracht. Ein Kapitel, dass Hesdörffer besonders schmerzt: »Mein Bruder hat dort als Elektriker gearbeitet, und ich dachte, ich könnte ihn retten. Als ich gehört habe, dass er deportiert werden sollte, habe ich sofort eine Eingabe gemacht. Aber als die Genehmigung eintraf, hatten sie meinen Bruder schon nach Auschwitz deportiert. Das verkrafte ich bis heute nicht. Er war doch jünger als ich.«
Holland Ernst Hesdörffer wurde in Auschwitz ermordet. Heinz Hesdörffer gelang es zunächst, sich in Holland über Wasser zu halten. »Ich wurde am 3. März 1943 verhaftet. Da wusste ich schon, dass von meiner Familie niemand mehr lebt«, erzählt er. »Meine Mutter wurde nach Sobibor deportiert, meine Tante nach Treblinka.« Hesdörffer selbst kam erst nach Westerbork und anschließend nach Theresienstadt.
»Als Kurt Gerron in Theresienstadt seinen Propagandafilm drehen wollte, mussten 7000 Menschen nach Auschwitz deportiert werden. Das Lager wäre sonst zu voll gewesen.« Hesdörffer war bereits in einen der Güterwaggons gesperrt worden, als sich die Tür noch einmal öffnete und er wieder aussteigen durfte. Freunde hatten sich »beim Obersturmbannführer für mich eingesetzt«. Im Mai 1944 kam er dann doch nach Auschwitz. »Dort sind wir schlimmer als das Vieh behandelt worden«, sagt Hesdörffer.
»Wenn man einen Juden verprügelt hat, bekam man zwei Tage Urlaub.« Am schlimmsten seien die SS-Leute aus den besetzten Gebieten gewesen, die sich freiwillig zum Dienst im KZ gemeldet hatten. »Die wollten wirklich, dass die Juden sterben«, erinnert sich der 92-Jährige. In Auschwitz wurden auch die Passbilder von seinem Bruder und seiner Mutter gefunden, die er jahrelang in den Einlagen seiner Schuhe versteckt hatte. »Zur Strafe gab es Schläge auf den nackten Rücken.«
Schwarzheide Das Schlimmste aber seien die seelischen Schmerzen gewesen – über den unwiederbringlichen Verlust dieser Bilder. Und dennoch: »Ich hatte Glück«, meint Hesdörffer. Denn trotz seiner erbärmlichen physischen Konstitution wurde er zum Arbeitseinsatz ins Außenkommando Schwarzheide abkommandiert und nicht nach Auschwitz III – in die Buna-Werke – geschickt. »Dort ging jeder, der sehr abgemagert war, sofort in den Tod.« Und Hesdörffer war sehr abgemagert: »Mein Steiß stand so heraus, dass ich nicht mehr sitzen konnte.« Trotzdem brachte er die Kraft auf, in Schwarzheide »Mauern hochzuziehen, um die Apparaturen zu verdecken, mit denen die Nazis aus Kohle Benzin gemacht haben«.
Als sich die Russen endlich dem Lager näherten, wurden die Verbliebenen ins KZ Sachsenhausen-Oranienburg verschleppt und dann auf den Todesmarsch geschickt: »Sie wollten uns nach Schwerin bringen, auf Schiffe packen und in der Ostsee versenken.« Am 2. Mai 1945 befreite die Rote Armee die kranken und ausgemergelten Menschen – der damals 22-jährige Heinz Hesdörffer wog noch 35 Kilo.
Aufgepäppelt wurde er in Belgien – 1947 wanderte er zu Verwandten nach Südafrika aus, heiratete eine Überlebende und wurde Vater. Erst 2002 brach er erneut auf: »Die Kriminalität wurde immer schlimmer. Es kamen arme Leute aus Simbabwe, aber in Südafrika gab es auch nichts. So mussten sie rauben und stehlen.« Nachdem sie dreimal überfallen worden waren, zogen die Hesdörffers zu ihrem Sohn, einem Kardiologen, nach New York.
Aber Hesdörffer bekam das Klima nicht. Er litt unter Asthma. Als er eine Einladung als Zeitzeuge nach Frankfurt erhielt, entschloss er sich, nach Deutschland zurückzukehren. 2009 zog Hesdörffer ins Henry- und-Emma-Budge-Heim nach Frankfurt. Seitdem hält er Vorträge und promotet sein Buch Bekannte trifft man viele sowie seinen Film Schritte ins Ungewisse. Zum Gedenktag an die Opfer des Nationalsozialismus wird er bei der Veranstaltung im Budge-Heim gemeinsam mit vier anderen Überlebenden das Kaddisch sprechen.
Simbabwe Trotz seines hohen Alters ist Hesdörffer immer auf dem Laufenden. Er telefoniert täglich mit seiner Frau, schimpft über die Krankenkassen-Abrechnungen und »diesen Mugabe, der einfach nicht aufgeben will«, verschickt Artikel per E-Mail und behält dabei die Uhr im Blick, damit er das Mittagessen nicht verpasst. Am 30. Januar wird er 93, er wird seinen Geburtstag mit Schülern aus seiner Heimatstadt feiern, die eigens nach Frankfurt kommen.
Das Gymnasium an der Stadtmauer in Bad Kreuznach hat ihm das Abiturzeugnis ehrenhalber überreicht, an der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg ist er gar im Studiengang »Praktische Jüdische Studien« eingeschrieben. Ihm zu Ehren wurde in Bad Kreuznach das »Bildungswerk Heinz Hesdörffer« gegründet, das junge Menschen anregen will, sich mit dem Holocaust auseinanderzusetzen.
Mit Deutschland hat sich Hesdörffer auf seine Art versöhnt – nur mit Gott nicht: »Wie kann man noch an Gott glauben? Er hat zugelassen, dass sechs Millionen von seinem auserwählten Volk umgebracht wurden!« Auf den Gürtelschnallen der Wehrmachtssoldaten habe »Gott mit uns« gestanden, auf den US-amerikanischen Münzen sei »In God we trust« zu lesen. Dafür hat der alte Herr nichts mehr übrig: »Alle wollen, dass Gott ihnen hilft. Aber das können sie vergessen!« Hesdörffers Konzept für die Zukunft lautet daher schlicht: »Ich will einfach nur in Ruhe und Gesundheit leben.«