Es ist einer dieser ersten heißen Tage im Frühling, an dem die Kirschbäume plötzlich in voller Blüte stehen und das Grau der vergangenen Monate verdrängen, als wäre es nie da gewesen. Soma Assad schnappt sich aus dem Kühlregal des Bahnhofssupermarkts einen Früchte-Smoothie und macht sich auf die Suche nach einem ruhigen Plätzchen im Schatten. Auf dem Bertolt-Brecht-Platz wird sie fündig – eine Bank direkt vorm Berliner Ensemble.
Die 35-Jährige nimmt Platz und zieht ein dickes blaues Buch aus ihrer Handtasche: ein druckfrisch erschienener 450-Seiten-Wälzer mit dem Titel Siebter Oktober Dreiundzwanzig. Ein Kapitel stamme von ihr, sagt die Politikwissenschaftlerin und schlägt die Seite 222 auf: »›Enraged, I fight back‹« – Über die Instrumentalisierung von Jin, Jiyan, Asadî durch vermeintliche Feministinnen seit dem 7. Oktober«, so die Überschrift ihres Essays. Das Buch ist im Berliner Querverlag erschienen, Deutschlands erstem schwul-lesbischen Verlag.
»Ein halbes Jahr haben wir an dem Buch gearbeitet«, erzählt Assad. Mit »Wir« meint sie vor allem ihre Mitstreiter Fatma Keser, Peshraw Mohammed, den Herausgeber Vojin Saša Vukadinović und viele weitere Autoren. Das Buch sei der Versuch einer Sensibilisierung der Öffentlichkeit für das Thema Antisemitismus, eine Debatte über Antizionismus und Identitätspolitik.
Im Februar reiste sie mit einer kurdischen Delegation nach Israel.
»Gerade das sogenannte progressive Milieu, das früher unentwegt einen antirassistischen Anspruch eingefordert hat, war nach dem Anschlag am 7. Oktober ziemlich still im Hinblick auf die Berichte von sexuellen Übergriffen auf israelische Frauen«, sagt Assad. Die Motive für die Ermordung von mehr als 1100 Israelis seien häufig verschwiegen worden, das »linke Milieu« habe bisweilen sogar die Aufforderung zur Zerstörung des jüdischen Staates akzeptiert. »Unser Sammelband umfasst erste Analysen zum Terrorangriff und den Folgen«, sagt die engagierte Projektleiterin eines intersektionalen Bildungswerkes.
»Vielleicht können wir damit einige Menschen erreichen«
Assad ist die Erleichterung darüber anzumerken, dass am Abend zuvor so viele Menschen zur Buchvorstellung in Neukölln erschienen waren. »Das Buch soll für das Thema und den Umgang mit dem enthemmten anti-israelischen Antisemitismus sensibilisieren«, sagt sie – und ergänzt nach einer Weile nachdenklich: »Vielleicht können wir damit einige Menschen erreichen.«
»Obwohl ich mich schon seit meiner Jugend für das Judentum engagiere, dachte ich nach dem Anschlag der Hamas auf Israel: Jetzt muss ich wirklich etwas tun!«, sagt Assad. Nach »diesem enthemmten Judenhass« sei für sie klar gewesen, dass ihr bisheriges Engagement nicht ausreiche. Und so habe sie eine Demo »Gegen jeden Islamismus« mitorganisiert und auf einer anderen Demo einen Redebeitrag zur Solidarität von Kurdinnen mit Israel und der jüdischen Community gehalten.
Am Anfang sei ihr das nicht leichtgefallen. Denn bis dahin hatte sie sich als Referentin in diversen NGOs, darunter auch bei der »WerteInitiative. jüdisch-deutsche Positionen« eher im Hintergrund gehalten. Sie hatte Projekte koordiniert, Veranstaltungen organisiert, Pressemitteilungen geschrieben, Dossiers verfasst.
Vor zweieinhalb Jahren ist sie wegen ihrer Arbeit nach Berlin gekommen
»Seit dem Anschlag aber lasse ich keine Gelegenheit aus, um mich bei Kundgebungen und Demonstrationen zum Thema Solidarität mit israelischen Frauen und Jüdinnen und Juden zu engagieren, die Opfer von sexualisierter Gewalt durch die Hamas-Schergen wurden«, sagt Assad. Ein leichter Wiener Akzent verrät, dass sie noch nicht allzu lange in Deutschland lebt. Vor zweieinhalb Jahren ist sie wegen ihrer Arbeit nach Berlin gekommen.
Soma Assad ist eine schlanke Frau mit einem freundlichen Gesicht. Hin und wieder weht der Wind ihr die langen Haare ins Gesicht, deren Spitzen blond gefärbt sind. Während des Gesprächs lässt sie den Blick über die Umgebung schweifen, sie beobachtet die Spatzen, die fröhlich über den Platz hüpfen, die blühenden Bäume, die Passanten, die an diesem milden Vorsommertag vorbeischlendern.
Als ein Tourist seine Kamera in ihre Richtung hält, springt sie auf. »Haben Sie etwa ein Foto von mir gemacht?« Sie lässt sich die Digitalfotos des Mannes zeigen, der offenbar nur die Umgebung fotografieren wollte. Das Missverständnis ist schnell aufgeklärt. »Ich muss ein bisschen aufpassen«, sagt sie und bittet den Mann um Entschuldigung. Als Auslandsirakerin mit österreichischem Pass und mit Familie in ihrem Geburtsland müsse sie sich vorsehen.
Viereinhalb Monate nach dem Massaker der Hamas schloss sich Soma Assad einer achttägigen Delegationsreise nach Israel an, deren Ziel es war, die Solidarität seitens der kurdischen Diaspora mit Israel zu bekunden. »Wir wollten ein Zeichen setzen, dass die Jüdinnen und Juden und Israel als Land nicht allein sind«, sagt sie. Es sei darum gegangen, besonders in diesen Zeiten die israelisch-kurdischen Beziehungen zu stärken.
Assad stammt aus einer muslimischen Familie, bezeichnet sich aber nicht als religiös
Assad stammt aus einer muslimischen Familie, bezeichnet sich aber nicht als religiös. »Israel ist ein Vorbild für uns Kurden«, erklärt sie, »wir haben keinen eigenen Staat Kurdistan.«
Auch der Kampf gegen islamische Fundamentalisten ist beiden Völkern gemeinsam. Kurden setzten sich vor zehn Jahren gegen den IS zur Wehr und riskierten das eigene Leben. Viele wurden ermordet.
Sie selbst kam während der Flucht ihrer Eltern auf die Welt.
Auch im Iran gehen Islamisten gewaltsam gegen Kurden vor. Prominentestes Beispiel ist Jina Mahsa Amini, die von der iranischen Sittenpolizei verhaftet wurde und gewaltsam zu Tode kam.
Bis heute demonstrieren im Iran Tausende Menschen gegen das Mullah-Regime. »Sie rufen den kurdischen Slogan: Jin, Jiyan, Azadî«, erzählt Assad, was so viel bedeute wie: »Frau, Leben, Freiheit«; er stehe für die Befreiung der Frau und hänge mit dem kurdischen Befreiungskampf zusammen. Diesen Slogan skandieren propalästinensische Demonstranten nun auf deutschen Straßen. Dies sei ein Missbrauch des Slogans, kritisiert Soma Assad.
Schon in den 80er-Jahren hatten sich ihr Vater und der Großvater dem kurdischen Widerstand gegen das Baath-Regime unter Saddam Hussein angeschlossen. Ihre Eltern wurden – damals noch jung und kinderlos – wie viele weitere Familienmitglieder in die Flucht getrieben. Ihr Großvater mütterlicherseits, der zuvor erfolgreich in Kirkuk und in Mossul zwei Tischlereien betrieben hatte, musste für seinen Widerstand mit dem Leben bezahlen. »Er wurde in den Süden des Irak verschleppt, exekutiert und anschließend in einem Massengrab verscharrt«, sagt Assad, die Mitte der 90er-Jahre als zweites von drei Kindern während der jahrelangen Flucht ihrer Eltern zur Welt gekommen ist.
Über viele Jahre hinweg war das Leben ihrer Familie von Flucht bestimmt
Über viele Jahre hinweg war das Leben ihrer Familie von Flucht bestimmt. »Meine Mutter war insgesamt elf Jahre unterwegs«, sagt Assad. Ihre eigene Migration führte sie als Kleinkind über Stationen in der Türkei und Griechenland schließlich nach Wien. »Dort kam ich in den Kindergarten, dann in die Vorschule.« Nach dem Gymnasium studierte sie in Wien Politikwissenschaften.
In ihrer Familie sei Bildung immer extrem wichtig gewesen, sagt sie, genau wie die Tatsache, dass sämtliche Familienmitglieder die Sprache des Landes beherrschten, in dem sie lebten.
Sie schlägt die Beine übereinander und lässt den Blick in die Ferne schweifen. Dann erzählt sie, wie sie an der Wiener Uni einmal aus dem Unterricht geflogen sei. Sie hatte dagegen protestiert, dass ihr Professor den ehemaligen iranischen Botschafter der IAEA (Internationale Atombehörde) ins politikwissenschaftliche Seminar eingeladen hatte, um vor Studenten zu sprechen.
»Als Wienerin mit Migrationshintergrund ist es mir nicht leichtgefallen, den Mund aufzumachen«, erzählt Assad leise, doch dazu habe sie nicht schweigen wollen. Schließlich wurde ihr mitgeteilt, dass sie offiziell vom Seminar abgemeldet sei. »Damals habe ich zum ersten Mal verstanden, wie allein man ist, wenn man Haltung zeigt. Nur ein einziger Kommilitone hat zu mir gestanden«, sagt sie. Aber an solchen Erfahrungen wachse man.
»Wir Kurden haben keinen eigenen Staat. Israel ist für uns ein Vorbild.«
Die Bekämpfung des Antisemitismus hat sich Soma Assad seit ihrem 15. Lebensjahr zu einer zentralen Aufgabe gemacht. Ausgelöst hatte dies ein Besuch bei der Großmutter, die nach ihrer Flucht in Nürnberg eine neue Heimat gefunden hatte. »Dort habe ich mich damals sehr intensiv mit dem Nationalsozialismus und seinen Folgen beschäftigt«, erzählt Assad. Beim Besuch des Dokumentationszentrums habe sie gemerkt, wie wenig sie an ihrem Gymnasium in Wien über den Holocaust gelernt hatte. Der Besuch in Nürnberg sei wie eine Initialzündung für sie gewesen, sagt Assad.
Mit all dem hänge auch zusammen, dass sie sich derzeit gegen türkische Al-Qaida-Proxys in Rojava, einem autonomen Gebiet im Nordosten Syriens, zur Wehr setze, erzählt sie. Als Kurdin sei sie – genauso wie Jüdinnen und Juden – besonders sensibilisiert dafür, wenn sich Gewissheiten für ein Leben in Freiheit und ohne Angst auflösen, um dann von Islamisten und Rechten und mittlerweile auch von Linken attackiert zu werden.
Die Kurdische Gemeinde Deutschland, der Dachverband, habe der jüdischen Community und Israel schon in vielen Stellungnahmen ihre Solidarität versichert. Soma Assad sah sich bei ihrer Reise nach Israel ein weiteres Mal darin bestärkt.
Die Eindrücke in Israel erschütterten sie
Die Eindrücke dort erschütterten sie. »Wir waren im Süden in Nir Oz, einem der Kibbuzim, der am 7. Oktober von der Hamas und von Zivilisten aus Gaza attackiert wurde, auf dem Gelände des Nova-Festivals und ganz im Norden in Liman, das ständig von der Hisbollah angegriffen wird«, erzählt sie. Was sie dort hörte, sah und erlebte, bestätigte sie darin, mit ihrem Engagement weiterzumachen.
Zum Abschluss der Reise seien sie bei einer kurdisch-israelischen Familie zu einer Feier eingeladen worden. »Dabei wurde deutlich, wie wichtig die Allianz zwischen Israel und den Kurden ist.«
Diese enge Verbindung ist auch in Deutschland spürbar. So erzählt Assad, dass kürzlich zum Neujahrsfest der kurdischen Gemeinde in Berlin auch Israels Botschafter, Ron Prosor, eingeladen gewesen sei. »Er hat eine sehr bewegende Rede gehalten«, sagt Assad und strahlt. Er habe angeboten, das Neujahrsfest der Kurden im kommenden Jahr in der Residenz seiner Botschaft zu feiern.
Die junge Frau wünscht sich, dass das, was in Berlin möglich ist, nämlich ein enges Band zwischen Kurden und Juden zu knüpfen, auch an anderen Orten in der Welt entstehen kann. Für sie ist Berlin ein Ort der Hoffnung. Dies stimmt sie optimistisch für die Zukunft.
Sie zieht ihre grüne Chiffonbluse und das schwarze Jackett zurecht, gerade ist ihr Vater zum ersten Mal aus Wien nach Berlin gekommen. Jetzt will sie ihm ihr neues Zuhause zeigen.