Europäer haben eine Schwäche für Märchen. Vor allem für solche, die ein Happy End haben. So wie dieses: Wenn ein arabisches Volk einen blutrünstigen Diktator stürzt, wird es sich eine demokratische Regierung wählen
So stellen sich das einige auch im Fall Syrien vor: Derzeit sind die Bösen an der Macht, die bringen jetzt die Guten um. Aber bald werden die Guten siegen, dann wird Syrien wieder ruhig und stabil – und demokratisch regiert.
Nur: Das ist kein realistisches Szenario. Nicht im Nahen Osten. Immer, wenn ich über die politischen Entwicklungen in der Region spreche, werde ich von Europäern gefragt, warum ich die Dinge so statisch sehe. Ich sollte sie doch eher dynamisch betrachten und daran denken, was sich alles zum Positiven ändern kann. Aber: Was hier in den vergangenen anderthalb Jahren geschehen ist, sieht vielleicht auf den ersten Blick positiv aus: In Wahrheit jedoch zeichnet sich in der Region eine äußerst negative Entwicklung ab.
stellvertreterkrieg Das gilt auch für Syrien. Die Krise dort darf man nicht isoliert betrachten, nicht nur im Zusammenhang mit Israel und dem Iran. Es geht zudem nicht um die in Europa derzeit häufig gestellte Frage, ob sich in Syrien ein Stellvertreterkrieg zwischen Sunniten und Schiiten abspielt. Den Konflikt zwischen diesen beiden Richtungen des Islam gibt es schon seit 1.400 Jahren. Das ist nicht das eigentliche Problem des Landes.
Was sich heute in Syrien so gewalttätig erhebt, ist der Ausbruch eines Unruheherds, der dort schon immer existierte. Nur wurde er jahrzehntelang blutig unterdrückt. Hafes al-Assad, der Vater des derzeitigen Diktators Baschar al-Assad, hat vor genau 30 Jahren beim Massaker von Hama Zehntausende Menschen umbringen lassen, als Abschreckung für andere Gegner seines Regimes. Diese Strategie hat bis vor Kurzem auch funktioniert.
Europa versucht indes immer noch, den Nahen Osten in nationalistischen Begriffen zu verstehen. Doch in Syrien geht es um Konflikte zwischen Stämmen und Großfamilien. (Wenn wir uns in der Region umsehen, im Libanon, in Jordanien, Jemen, Algerien oder Libyen, stoßen wir auf vergleichbare Phänomene.) Bislang hieß es auch, Baschar al-Assad sei ein kultivierter Mann mit einer hübschen Frau, ein Augenarzt, der in Großbritannien studiert hat. Er werde Reformen auf den Weg bringen, glaubte man. Aber es war nie etwas anderes von ihm zu erwarten, als das, was wir jetzt erleben.
pessimismus Als ich das vor zwölf Jahren gesagt habe, hat man mich einen Pessimisten genannt. Ich bleibe pessimistisch. Für Syrien sehe ich nur drei Möglichkeiten. Eine ist, dass Assad bleibt. Ich sage nicht, dass das geschehen wird. Aber es ist eine realistische Option. Er kann diese Krise überleben. Das ist keine angenehme Vorstellung, auch, weil sein Verbleiben an der Macht das iranische Regime und die Achse der Radikalen in der Region stärken würde. Warum das gefährlich wäre, bedarf keiner weiteren Erläuterung.
Die zweite Möglichkeit ist, dass das Assad-Regime gestürzt wird und die Muslimbrüder die Macht übernehmen. Dann haben wir zwei Probleme. Das erste ist, dass Syrien sehr eng an die Türkei rücken würde. Da die Entwicklung dort unter Recep Tayyip Erdogan äußerst gefährlich ist, ist das eine schlechte Option. Die zweite Gefahr, die dieses Szenario birgt, ist die drohende Radikalisierung Jordaniens durch den Einfluss der Muslimbrüder. Amman war für Israel stets ein wichtiger Partner, was die Stabilisierung der Region betrifft. Sollte es dort zu einer Koalition aus radikalen Palästinensern und Muslimbrüdern kommen, sind Unruhen und Instabilität vorprogrammiert. Eine brisante Situation: nicht nur für Israel, sondern auch für Saudi-Arabien und nicht zuletzt für die europäisch-amerikanischen Interessen in der Region.
blutrache Die dritte Möglichkeit ist, dass ein schwaches Regime in Damaskus an die Macht kommt, das versucht, die inzwischen teilweise unabhängigen Regionen des Landes zu regieren. Das wird nicht funktionieren. Wenn diejenigen, die heute gegen Assad kämpfen, die Macht übernehmen, wird es zunächst einmal eine lang anhaltende Phase von Gewalt und Blutrache zwischen den verschiedenen Gruppierungen geben.
Alle drei Szenarien haben eines gemeinsam: Sie sind schlecht für die Stabilität im Nahen Osten. Aber Europa zeigt sich immer noch optimistisch. Man glaubt dort, dass sich im Falle eines Wandels etwas zum Positiven verändern wird. Optimismus ist ein sehr gefährlicher Luxus. Wir Israelis können ihn uns nicht leisten. Israel muss sich auf harte Zeiten einstellen, muss vorsichtiger und stärker sein, mehr für seine Verteidigung aufwenden. Wir können Kriege nur durch Abschreckung vermeiden. Leider.
In Europa wird gefragt, wann die Syrien-Krise vorüber sei. Die Antwort im Nahen Osten lautet: Eine Krise ist hier erst dann vorbei, wenn die nächste, größere begonnen hat.