Benjamin Steinitz machte gleich am Anfang der Pressekonferenz deutlich, wie schwer das Problem wiegt: »Auch im Jahr 2022 war die Sicherheit jüdischer Gemeinden, war die Unversehrtheit von Jüdinnen und Juden in diesem Land immer wieder bedroht.«
Am Dienstag stellte der geschäftsführende Vorstand des Bundesverbands der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (RIAS) den neuen Jahresbericht seiner Organisation in Berlin vor. Bei der Präsentation im Gebäude der Bundespressekonferenz waren zudem Bianca Loy von RIAS sowie der Beauftragte der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus, Felix Klein, anwesend.
Befunde Der wichtigste Befund des nicht repräsentativen Berichts: Ein Höchststand an Gewalttaten und zugleich weniger antisemitisch motivierte Vorfälle. So stieg die Zahl von Fällen extremer Gewalt auf den höchsten Stand seit Beginn der Erfassung 2017. Dazu zählen körperliche Angriffe und Anschläge mit ernsten Folgen oder deren Versuch. Die Zahl antisemitischer Vorfälle gibt RIAS mit insgesamt 2480 an. 2021 waren es 2773, ein Rückgang von fast elf Prozent.
Diese Entwicklung ist RIAS zufolge damit zu erklären, dass die Corona-Pandemie und der arabisch-israelische Konflikt keine so große Rolle mehr gespielt hatten wie 2021. Zugleich bleibe israelbezogener Antisemitismus auf hohem Niveau. 2022 sei auch Russlands Krieg gegen die Ukraine Anlass zu Judenfeindschaft gewesen.
Loy gab angesichts der gesunkenen Zahlen keine Entwarnung: »Das bedeutet nicht, dass der Antisemitismus weniger geworden ist, sondern nur weniger sichtbar.« Auch Klein ist der Meinung, dass sich in der RIAS-Statistik nur vermeintlich ein Rückgang von Antisemitismus widerspiegele. Vielmehr hätten sich 2022 im Vergleich zum Vorjahr die Gelegenheitsstrukturen für antisemitische Taten verändert.
RIAS-Vorstand Steinitz hob besonders die Anschläge gegen jüdische Einrichtungen hervor, die mutmaßlich auf das iranische Regime zurückgehen. Hier bestehe für die Politik dringender Handlungsbedarf, so Steinitz. Zum einen müssten Sicherheitsdefizite in jüdischen Gemeinden behoben und zum anderen Schritte, wie die Terrorlistung der iranischen Revolutionsgarden, angegangen werden.
Steinitz beklagte zudem die seiner Meinung nach unzureichende finanzielle Ausstattung von RIAS. So erwarteten drei Landesverbände im kommenden Jahr Mittelkürzungen, weitere hätten nicht ausreichend Ressourcen, um an fünf Tagen in der Woche arbeiten zu können. Die zuständigen Landesregierungen müssten sich fragen, »ob sie Antisemitismus-Bekämpfung als Teilzeitaufgabe verstünden«, so Steinitz.
Die RIAS-Meldestellen dokumentierten insgesamt 9 Vorfälle extremer Gewalt, 56 Angriffe, 186 gezielte Sachbeschädigungen, 72 Bedrohungen, 1.912 Fälle verletzenden Verhaltens (davon 426 Versammlungen) sowie 245 Massenzuschriften.
Reaktionen Der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, meldete sich kurz nach Veröffentlichung des Berichts zu Wort: »Die weiterhin hohen Zahlen der Meldestellen zeigen, dass Antisemitismus in Deutschland bedauerlicherweise ein Alltagsphänomen ist. Obwohl die größte Bedrohung von der extremen Rechten ausgeht, beobachten wir auch, dass Antisemitismus verschiedene Formen des Extremismus miteinander verbindet.« Das zeige sich etwa im verschwörungstheoretischen Milieu, so Schuster. Er lobte die Arbeit von RIAS und sagte: »Dieser Beitrag zur Bekämpfung des Antisemitismus in unserem Land ist von großer Wichtigkeit und muss auch künftig abgesichert sein.«
Die Orthodoxe Rabbinerkonferenz Deutschland (ORD) erklärte: »Auch wenn die Zahl der antisemitischen Zwischenfälle für 2022 leicht rückläufig sind, ist das kein Anlass Entwarnung zu geben oder sich beruhigt zurückzulehnen. Ganz im Gegenteil: Es sind nicht nur 2480 antisemitische Zwischenfälle zu viel. Extrem beunruhigend ist, dass die Hemmschwelle zur Gewalt gegen Juden immer niedriger wird.« Es herrsche ein toxisches gesellschaftliches Klima, was sich auch in den politischen Erfolgen der AfD ausdrücke. Der Kampf gegen Antisemitismus sei »eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe«, so die ORD.
Datengrundlage In den Bericht flossen Daten von Meldestellen in elf Bundesländern ein. An sie können sich Betroffene oder Zeugen wenden. Hinzu kommen Informationen von Organisationen. RIAS betont, dass sich die Datengrundlage für 2022 von der Vorjahre unterscheide. So hätten sechs neue Meldestellen erstmals systematisch Vorfälle dokumentiert. Brandenburger Daten flössen dagegen nicht mehr ein.
Die Meldestellen registrieren auch Vorfälle, die keine antisemitisch motivierten Straftaten sind. Deren Zahl sank laut Bundeskriminalamt 2022 um rund 13 Prozent auf 2641 Fälle - 88 Gewaltdelikte darunter seien aber kein Grund zur Entwarnung, hieß es. Der überwiegende Teil der Taten wird Rechtsextremisten zugerechnet. Zugleich steige die islamistisch geprägte Judenfeindschaft.
»Trotz aller Bemühungen ist weiterhin von einer großen Dunkelziffer antisemitischer Vorfälle auszugehen, die niemals gemeldet oder registriert werden«, betont RIAS. Auch sei die Zahl der Vorfälle statistisch nicht repräsentativ für die Gesamtbevölkerung und lasse nicht darauf schließen, wie viele Menschen in Deutschland insgesamt antisemitisch dächten oder handelten. »Ziel des vorliegenden Berichts ist es vor allem, die alltägliche Dimension von Antisemitismus in Deutschland zu verdeutlichen.« kna/ja