Seit Jahren quält sich die deutsche Politik mit der Frage, ob und in welcher Form die sogenannten jüdischen Kontingentflüchtlinge aus der ehemaligen Sowjetunion einen kleinen Zuschlag auf ihre oft kärgliche Rente bekommen sollen.
Mehr als 220.000 jüdische Zuwanderer kamen seit Anfang der 90er-Jahre nach Deutschland. Ihre in der alten Heimat erworbenen Qualifikationen wurden häufig nicht oder nur teilweise anerkannt. Zudem hat Deutschland mit vielen Nachfolgestaaten der UdSSR bislang noch keine Abkommen zur Übertragung von Rentenansprüchen.
grundsicherung Deshalb fehlen vielen die Entgeltpunkte für eine Altersrente, die über der staatlichen Grundsicherung liegt. Diese beträgt aktuell gerade einmal 446 Euro für Alleinstehende und 802 Euro bei Paaren. Die Zentralwohlfahrtsstelle (ZWST) und der Zentralrat der Juden in Deutschland schätzen, dass rund 70.000 jüdische Zuwanderer von Altersarmut betroffen sind.
Ein weiteres Problem: Ostdeutsche fordern seit Langem die Anerkennung von Sondertatbeständen im DDR-Rentenrecht. In ihrem Koalitionsvertrag vereinbarten CDU, CSU und SPD 2018 ein Junktim: Man wolle für alle Gruppen »einen Ausgleich durch eine Fondslösung schaffen«, hieß es darin. Bereits im Februar 2019 hatten die Oppositionsfraktionen von FDP, Linken und Bündnis 90/Die Grünen in seltener Eintracht eine Lösung angemahnt. Neben einer Härtefallregelung wurden auch andere Optionen in Erwägung gezogen, darunter Änderungen im Rentenrecht. Die sind jetzt offenbar vom Tisch.
Stattdessen hat sich die Bundesregierung ressortübergreifend auf einen Härtefallfonds in Form einer Stiftung außerhalb der gesetzlichen Rentenversicherung verständigt. Darin werden die Anspruchsberechtigten genau definiert. Neben ostdeutschen Balletttänzern, DDR-Reichsbahn-Mitarbeitern und Spätaussiedlern werden in dem Papier auch jüdische Zuwanderer benannt, die vor dem 1. April 2012 nach Deutschland kamen, zu dem Zeitpunkt mindestens 40 Jahre alt waren und seit dem 1. Januar dieses Jahres in Rente sind.
eckpunktepapier Allerdings enthält das Eckpunktepapier keine Zahl: Die genaue Summe, mit der die Benachteiligungen ein Stück weit ausgeglichen werden sollen, muss erst noch ausgehandelt werden. Der Zentralrat der Juden und die ZWST forderten jüngst die Politik auf, wenigstens einen fünfstelligen Betrag bereitzustellen. 10.000 Euro über einen typischen Auszahlungszeitraum von 20 Jahren hinweg würden dazu führen, dass ein Rentenbezieher monatlich rund 42 Euro mehr bekäme.
Der Zentralrat hat das jahrelange Hinauszögern einer Lösung als »zynisch« bezeichnet.
Ein weiterer Knackpunkt sind die Länder: Der Bund hat sich darauf verständigt, die Hälfte der anfallenden Kosten zu übernehmen. Der Rest soll aus den Landeshaushalten kommen. Besonders belastend könnte sich das auf die ostdeutschen Länder auswirken. Ob die zustimmen, ist noch unklar. In gut unterrichteten Kreisen heißt es, man sei zwar einer Lösung noch nie so nahe gewesen, schätze die Chancen, dass die Fondslösung komme, aber dennoch nur auf 50 Prozent ein.
Auch in der Berliner Politik ist offenbar noch nicht jedem klar, welchen Frust ein Scheitern auslösen könnte. Denn ohne die Zuwanderer aus dem Osten gäbe es heute in Deutschland wohl kein blühendes jüdisches Leben mehr, sondern nur noch eine überalterte Rumpfgemeinde. Wie aber soll eine Gemeinschaft langfristig überleben, wenn eine tragende Mehrheit von Altersarmut betroffen ist?
härtefallfonds Zwei der drei Regierungsparteien führen das Wort »sozial« im Namen. Der jetzt von ihnen vereinbarte Härtefallfonds kann für die Betroffenen substanziell aber nur dann etwas verbessern, wenn eine ordentliche Summe ausgezahlt wird. Alles andere wäre Augenwischerei.
Im Februar beschloss der Bundesrat auf Antrag Bremens, Hamburgs und Thüringens, dass man nicht länger zuwarten dürfe und die Sache endlich in trockene Tücher bringen müsse. Jetzt müssen Bund und Länder aber auch zeigen, dass sie nicht nur zu hehren Worten, sondern auch zu starken Taten fähig sind.
Dass die Frage der Rentenansprüche jüdischer Zuwanderer verknüpft wurde mit dem Thema der DDR-Renten, ist bedauerlich, aber politischen Sachzwängen geschuldet. Befremdlich wirkt aber, dass die Anerkennung von einigen weiterhin grundsätzlich und mit oft spitzfindigen juristischen Argumenten infrage gestellt wird.
äquivalenzprinzip Die Diskussion darüber, ob mit einem Hilfsfonds tatsächlich das »Äquivalenzprinzip der gesetzlichen Rente« unterhöhlt wird, wie ein Sachverständiger monierte, wirkt wie Spiegelfechterei. Rechtliche Hürden sollten für die Politik kein Vorwand sein, das Problem einfach auszusitzen. Aus dem Bundesarbeits- und Sozialministerium verlautete, es seien noch »schwierige Abwägungen« nötig, um die gesteckten Ziele zu erreichen.
Zu Recht hat der Zentralrat der Juden das jahrelange Hinauszögern einer Lösung als »zynisch« bezeichnet. Schließlich sind die Betroffenen in hohem Alter. 30 Jahre nach Beginn der jüdischen Zuwanderung nach Deutschland duldet die Einrichtung des Härtefallfonds keinen weiteren Aufschub. Eine schnelle und unbürokratische Lösung, wie man das im Politikerjargon gern bezeichnet, war und ist das Ziel. Kommt sie nicht, hätte die Regierung ein Versprechen gebrochen.