In wie vielen deutschen Städten und Gemeinden sogenannte Hitlerglocken die Stunde läuten oder gläubige Christen zum Gottesdienst rufen, weiß niemand. Aber die Überbleibsel der engen Verbindung von Teilen der evangelischen Kirche zum Nationalsozialismus sind noch immer in deutschen Kirchtürmen präsent.
Meist sind sie mit einem Hakenkreuz verziert, manchmal auch mit einem schriftlichen Bekenntnis zu Adolf Hitler. Gegossen und aufgehängt wurden sie in der NS-Zeit, und sie sind noch in vielen Kirchen im Einsatz.
PROPAGANDAMITTEL Sie klingen, wie Glocken nun einmal klingen, nur sichtbar sind sie nicht. Lediglich evangelische Pfarrer, Kirchenpersonal und ab und an ein Handwerker bekommen sie zu Gesicht. Und die stört es meist so wenig wie ihre Gemeinden, wenn der Klöppel die Hitlerglocken zum Klingen bringt.
Gilbert Kallenborn sieht das anders. Der Jude aus dem Saarland kämpft seit Jahren gegen die Hitlerglocken. »Eigentlich ist die Sache eindeutig. Es ist verboten, Propagandamittel einer verbotenen Partei vorrätig zu halten«, sagt er. »Und das trifft auf das Hakenkreuz als Zeichen der NSDAP zu, egal ob es auf einem Kuchen, einem T-Shirt oder auf einer Glocke zu sehen ist.«
Bekannt wurde Kallenborn durch seinen Prozess gegen die Hitlerglocke im pfälzischen Herxheim am Berg. Mittlerweile geht es ihm längst nicht nur um die Kirche in Herxheim. Er hat weitere Glocken ausgemacht. In Thüringen und Sachsen-Anhalt, den Hochburgen der »Deutschen Christen«, weiß er von neun Hitlerglocken. »Das ist ein Sumpf«, sagt Kallenborn. In Herxheim hätten sie wenigstens so viel Anstand, ihre Glocke nicht am 27. Januar zu läuten. In Sachsen-Anhalt und in Thüringen hingegen wollte man selbst am Tag zum Gedenken der Opfer der NS-Herrschaft nicht darauf verzichten.
In vielen Kirchen läuteten
die Hitlerglocken auch
am 27. Januar.
Von der Politik gab es für den Saarländer bislang wenig Unterstützung. Als Kallenborn in Thüringen eine Petition gegen die Verwendung der Nazi-Glocken auf den Weg brachte, teilte ihm die Staatskanzlei von Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) mit: »Bei den Kirchenglocken, die als Vermögensgegenstände von öffentlich-rechtlich korporierten Religionsgemeinschaften kultischen Zwecken dienen, handelt es sich um sogenannte res sacrae«, und für diese gelte ein besonderer religionsverfassungsrechtlicher Schutz.
Eine Dienstaufsichtsbeschwerde gegen die Thüringer Landesbischöfin Ilse Junkermann legte Kallenborn ein – wegen Vorrätighalten, Nutzen und Läuten dieser Glocken ausgerechnet am 27. Januar. Aber die Evangelische Kirche Deutschlands antwortete ihm, sie könne das nicht bearbeiten.
LOTTO-GELDER Einen Vorschlag der Landesregierung, man könne doch mit Geldern aus den Lottoeinnahmen neue Glocken spendieren, lehnt Kallenborn ab: »Das Geld der Lottospieler soll behinderten Kindern, Armen und der Kultur zugutekommen. Es kann doch nicht sein, dass die reiche evangelische Kirche, die Milliarden vom Staat bekommt, sich neue Glocken finanzieren lässt.« Auch die Kirche selbst wolle diese Finanzierung nicht.
Kallenborn und sein Anwalt Josef Schirra setzen nun weiter auf den Rechtsweg: In der Sache Herxheim gehen sie vor das Verwaltungsgericht Neustadt und hoffen auf Folgewirkungen. »Ich gehe davon aus«, sagt Schirra, »dass wir in sechs bis zwölf Monaten aufgrund des öffentlichen Interesses eine Entscheidung des Gerichts haben werden. Und mit dem Urteil kann man dann weiterarbeiten.«
Die Evangelische Kirche in Mitteldeutschland (EKM) teilt auf Anfrage mit, dass sie den betreffenden acht Gemeinden, in deren Kirchen neun Hitlerglocken hängen, anbiete, »die Inschriften und Symbole mit Bezug zur Nazi-Zeit auf Kosten der Landeskirche zu entfernen«. Einen direkten Zugriff auf die Gemeinden habe man allerdings nicht.
Experten verweisen darauf, dass sich der Klang einer Glocke durch Fräsen und Flexen verändert.
Experten verweisen überdies darauf, dass sich der Klang einer Glocke durch Fräsen und Flexen verändert. Und Gießereien sind selten, neue Glocken kosten, und obendrein sind sie nur schwer ins Gebälk des Kirchturms zu hieven.
KONSULTATION In der EKM heißt es, dass die betroffenen Glocken bis zur Zerstörung der NS-Symbole nicht öffentlich zugänglich sein sollen. »Die Gemeinden werden hierzu beraten«, Ziel sei es, »dass die Glocken weder Konfirmanden- noch Besuchergruppen zugänglich gemacht werden«. Wo genau die Glocken hängen, gibt die EKM nicht bekannt. Sie wolle vermeiden, dass sich Menschen Zugang verschaffen, um die Kirchen für bestimmte anderweitige Zwecke zu nutzen.
Geplant ist zudem ein Konsultationstag im April. Dort sollen – auch mit einem Vertreter der Jüdischen Landesgemeinde Thüringen – Möglichkeiten besprochen werden, »mit der Problematik umzugehen«.
Kallenborn genügt das nicht. Auch eine abgeschliffene Hitlerglocke bleibe eine Hitlerglocke. Er erwartet, dass sich die betroffenen Kirchengemeinden an Schweringen in Niedersachsen orientieren: Die dortige Gemeinde hatte 2018 nicht nur die Nazi-Symbole abgefräst, sondern die Glocke auch entwidmet. Und dann, als sie mit neuen Symbolen verziert worden war, erneut im evangelischen Sinne gewidmet.