Es war eine ebenso perfide wie weitreichende Idee. Vor genau 35 Jahren rief Irans Ayatollah Chomeini alle Muslime weltweit dazu auf, am letzten Freitag des Fastenmonats Ramadan ihre religiösen Konflikte zu überwinden und sich auf ein gemeinsames Ziel zu besinnen – die Auslöschung Israels. Chomeinis Aufruf wurde erhört: Bereits am ersten Al-Quds-Tag 1979 gingen in Teheran drei Millionen Menschen auf die Straße, verbrannten Israel-Fahnen und riefen Parolen wie »Juden ins Gas!«.
feindbild Genau 35 Jahre später steht Hassan am Freitag vergangener Woche auf dem Berliner Kurfürstendamm. Neben ihm halten kleine Kinder Schilder hoch, auf denen »Zionisten sind Faschisten« steht. Geschminkte junge Palästinenserinnen mit Kopftuch skandieren »Kindermörder Israel«. Auch Hassan ist wütend. Mit rund 1200 anderen, zumeist arabischen Demonstranten protestiert er an diesem Nachmittag gegen das »rassistische Israel«, wie Hassan den jüdischen Staat nennt.
Für den 23-jährigen Kreuzberger ist Israels bloße Existenz ein Verbrechen gegen die Menschheit. Dass die Hamas Israel seit Jahren mit Raketen beschießt, findet er richtig. Völkermord ist es für Hassan, dass Jerusalem nicht in muslimischer Hand ist. Israel muss von der Landkarte verschwinden, davon ist er überzeugt. Seine Großeltern kommen aus Palästina. Er selbst war noch nicht dort.
»Heut’ machen wir die Juden fertig!«, pflichtet Ismael Hassan bei. Die vielen Fernsehbilder von blutverschmierten Babys, toten Frauen und hilflosen Vätern im Gazastreifen wühlen ihn auf. In den letzten Monaten hatte Ismael viel Zeit zum Fernsehen. Die Schule brach er vor einigen Monaten ab. Seither hangelt er sich von Krankschreibung zu Krankschreibung – und schaut in Dauerschleife Al Dschasira. Wie viele andere Demonstranten will Ismael am Al-Quds-Tag zurückschlagen.
schlachtrufe Um das zu verhindern, hat die Polizei massiv mobil gemacht. Über 1000 Beamte sind im Einsatz. Anders als bei den Demos der vergangenen Wochen in Berlin und anderen Städten will die Polizei antisemitische Attacken diesmal sofort unterbinden. Ungestraft soll keiner rufen: »Jude, Jude, feiges Schwein, komm heraus und kämpf allein«. Gegendemonstranten und unbeteiligte Passanten sollen geschützt werden.
Auch die Veranstalter der Al-Quds-Kundgebung ermahnen zu einem friedlichen Verlauf. Organisator Jürgen Grassmann weiß, dass einige der jungen arabischen Demonstranten gewaltbereit sind. »Nichts gegen Juden brüllen!«, ermahnt Grassmann die Demonstranten. »Die Zionisten warten nur darauf, dass ihr ausrastet. Den Gefallen werden wir ihnen nicht tun.«
Dann schallen Hisbollah-Schlachtrufe über den Ku’damm, Hamas- und Syrienfahnen werden geschwenkt, auch Vertreter der Islamischen Republik Iran nehmen an der Kundgebung teil. »Zionisten sind Faschisten«, ruft Jürgen Grassmann unter Applaus ins Megafon.
Bereits wenige Minuten später eskaliert die Situation zum ersten Mal. Der Demonstrationszug hat sich gerade erst in Bewegung gesetzt, als er an einer Pro-Israel-Kundgebung vorbeizieht. Sofort versuchen junge arabische Männer, die Gegenveranstaltung zu stürmen. Als die Polizei sich ihnen in den Weg stellt, greifen rund 100 Aktivisten die Beamten an. Es wird hektisch. Journalisten rennen. Mit Mühe und Not gelingt es den behelmten Polizisten, die Angreifer zurückzudrängen.
Es sind Szenen, die sich an diesem Freitag noch oft wiederholen werden. Immer wieder ist aus der Menge der Demonstranten auch »Sieg Heil« und »Juden ins Gas« zu hören. Auf Höhe der Bleibtreustraße schreien rund 30 Araber: »Israel, Israel, feiges Schwein, komm heraus und kämpf allein«. Keine Reaktion der Polizei, Festnahmen bleiben aus.
parallelen Wenige Meter entfernt kann Sophie Reich nicht fassen, was sie hört. Geschockt verfolgt die 63-Jährige, wie die Al-Quds-Demonstranten ungehindert antisemitische Beleidigungen brüllen. »Unglaublich«, murmelt sie vor sich hin. »Unglaublich.« Das Szenario erinnert sie an die Erzählungen ihres Vaters,sagt die Berlinerin. Der hatte als Junge genau hier am Ku’damm miterleben müssen, wie die Nazis am 9. November 1938 marodierend durch Berlins Prachtstraße zogen, jüdische Geschäfte plünderten und antisemitische Beschimpfungen riefen. Kurz nach den Pogromen gelang es Reichs Vater, mit seinen Eltern in die USA zu fliehen. In den 60er-Jahren kehrte die Familie nach Berlin zurück. Nie habe sie sich vorstellen können, sagt Reich, hier in Charlottenburg auch nur annähernd ähnliche Parolen zu hören wie damals ihr Vater.
Der Streetworker und Psychologe Ahmad Mansour ist nicht überrascht über die antisemitische Hasswelle, die in diesen Tagen Deutschland überzieht. Der 38-jährige palästinensische Israeli war früher selbst glühender Antisemit. Die Erforschung des muslimischen Judenhasses ist so etwas wie sein Lebensthema geworden, seit er mit dem Islamismus gebrochen hat. Ein Gastsemester an der Universität Tel Aviv öffnete ihm als jungem Studenten die Augen: »Mein Bild von Juden wurde durch die Realität ad absurdum geführt«, sagt Mansour.
Aber er weiß: Schon in der Kindheit wird vielen Muslimen das Feindbild Jude mitgegeben, auch durch Moscheen und Koranschulen, so Mansour. »Man sollte mit den Jugendlichen sprechen, ihnen zuhören«, empfiehlt er und plädiert für eine neue Integrationspolitik: »Wir sollten versuchen, andere für das Grundgesetz und dessen Werte zu gewinnen.«
ängste Vanessa Amiri hat die Berichte über den Al-Quds-Tag im Fernsehen verfolgt. Vor über 40 Jahren ist die persische Jüdin nach Deutschland emigriert, auch wegen des staatlich vorgegebenen Antisemitismus in ihrem Geburtsland. »Johude najes! Sag-Johud!« – »Schmutziger Jude! Judenhund!«, riefen die Nachbarn ihren Eltern und ihr in den Gassen Teherans nach.
Bisher hat sich die inzwischen 60-Jährige in Deutschland immer wohlgefühlt.
Aber in den vergangenen Wochen ist etwas in ihr ins Wanken geraten. Es drängt sich ihr der Eindruck auf, als sei ihr der Antisemitismus ihrer alten Heimat in die neue gefolgt. Von der Mehrheitsgesellschaft wünscht sich Amiri mehr Unterstützung. »Wo sind die Leute, die sonst beim klassischen Springerstiefel-Antisemitismus laut aufschreien?«, fragt sie. Zum ersten Mal in ihrem Leben ist die Dortmunderin sich unsicher, ob Deutschland es wirklich ernst meint mit dem Kampf gegen den Judenhass. »In mir ist innerlich etwas zerbrochen«, sagt Amiri. »Ist das wirklich noch mein Land?«