2005 räumte Israel seine Siedlungen im Gazastreifen und zog seine Truppen ab. 2006 ging die Terrororganisation Hamas aus den Wahlen in den Palästinensergebieten als stärkste Kraft hervor. 2007 kam es zur »Schlacht um Gaza«, zu einer militärischen Auseinandersetzung. Nicht etwa zwischen Israel und den Palästinensern, sondern zwischen der Hamas und der Fatah von Palästinenserpräsident Mahmud Abbas.
Weil die Fatah dabei den Kürzeren zog und weil die Hamas mächtige ausländische Unterstützer hat, konnte Letztere seitdem ihre Macht in der Küstenenklave zementieren. Und sich auch auf das konzentrieren, was ihr eigentlicher Sinn und Zweck ist: Israel zu zerstören, Juden zu vertreiben und so Palästina zu »befreien«.
Seit mehr als 15 Jahren beschießen die Hamas und ihr nahestehende Terrorgruppen israelisches Territorium mit Raketen. Seitdem gräbt sie immer wieder neue Tunnel, um israelische Orte in der Nähe des Grenzzauns anzugreifen. Zuletzt massakrierte die Hamas in einem minutiös geplanten Terrorangriff mehr als 1400 israelische und ausländische Zivilisten.
Hatte UN-Generalsekretär António Guterres das im Hinterkopf, als er am Dienstag davon sprach, der 7. Oktober sei nicht aus heiterem Himmel passiert, sondern habe eine 56-jährige Vorgeschichte?
Mitnichten. Der Hinweis auf den Sechstagekrieg 1967 war jedem sofort verständlich. Er war eine gezielte Spitze gegen Israel, eine Attacke gegen die Siedlungspolitik. Nur: Was wollte Guterres damit sagen? Der Angriff des 7. Oktober galt ja israelischem Territorium, das auch schon vor 1967 Teil des jüdischen Staates war. Oder ist Guterres der Meinung, dass Gaza nach wie vor israelisch besetzt ist? Und hätte er nicht auch etwas sagen können zum Hass auf Israel, der seit Jahrzehnten in den Palästinensergebieten propagiert wird? Gehört das nicht auch zur Vorgeschichte?
Der Sozialdemokrat, langjähriger portugiesischer Ministerpräsident und ehemaliger Vorsitzender der Sozialistischen Internationale, ist ein kluger und erfahrener Mann. 2017, kurz nach Amtsantritt als UN-Generalsekretär, wollte Guterres sich bewusst vom antiisraelischen Mainstream innerhalb der Vereinten Nationen absetzen und trat bei einer Veranstaltung des Jüdischen Weltkongresses in New York auf. Feierlich gelobte er, gegen doppelte Standards in Bezug auf Israel anzugehen.
Es war gut gemeint. Guterres ist den Ansprüchen aber nicht gerecht geworden. Antizionismus und auch Antisemitismus sind bei den Vereinten Nationen nach wie intrinsisch, Israel die Schuld zuzuschieben gehört dort zum guten Ton. Doch zu seiner Verteidigung sei gesagt: Selbst als Generalsekretär ist Guterres nur ein Rädchen im UN-System. Er muss Rücksicht nehmen auf die Regierungen der UN-Mitgliedsstaaten, von denen eine Mehrheit Israel nicht wohlgesinnt ist.
Ein freier Mensch dagegen ist Christoph Heusgen. Der langjährige außenpolitische Berater von Angela Merkel und ehemalige deutsche UN-Botschafter in New York ist außer Dienst und kann offen sprechen. Seit dem vergangenen Jahr ist Heusgen Chef der Münchner Sicherheitskonferenz, einem privaten Verein, der zwar von der Bundesregierung mit beträchtlichen Mitteln subventioniert wird, der aber trotzdem unabhängig von ihr ist.
Doch von seiner alten Diplomatenrolle hat Heusgen sich offensichtlich noch nicht gelöst. Was er am Dienstagabend im ZDF-Heute-Journal sagte, klang wie aus dem Handbuch der Diplomatensprache. Heusgen verteidigte nicht nur Guterres für dessen seltsames Statement, er goss noch mehr Öl ins Feuer.
VÖLKERRECHT Gefragt, was er von den Aussagen des UN-Generalsekretärs halte, antwortete Heusgen: »Guterres ist ein sehr besonnener Mann. Man wirft ihm oft vor, dass er nicht klar genug sich äußert. Wenn er einerseits aufs Schärfste die Hamas-Aktion verurteilt hat, ist das richtig. Gleichzeitig hat er auch Recht, wenn er sagt, dass das nicht in einem Vakuum stattgefunden hat. Und wenn er auf die Besatzung, 56 Jahre Besatzung der Palästinensergebiete hinweist, dann ist das genau das, was im geltendem Völkerrecht, in UNO-Resolutionen, so drinsteht. Die letzte Resolution sagt, dass die Besatzung eine flagrante Verletzung des Völkerrechts ist.«
Anschließend kam ein Satz, der in solchen Zusammenhängen häufiger kommt: Eine »diplomatische Lösung« brauche es in Gaza. Die Geiseln müssten freikommen. Alles andere, sagte Heusgen, sei doch zweitrangig. »Und dann muss man verhindern, dass es einen Flächenbrand gibt, also keinen Einmarsch der israelischen Truppen im Gazastreifen. Und dann muss man wieder zurückkehren zu einer diplomatischen Lösung. Man muss zurückkehren zur Zweistaatenlösung, die geltendes Recht ist. Und da muss Israel auch mitmachen! Das kann man sich derzeit nicht vorstellen, aber das ist der einzige Ausweg«, sagte er.
Auf Nachfrage von Moderatorin Dunja Hayali wurde Heusgen noch deutlicher. Eine israelische Bodenoffensive im Gazastreifen müsse »auf jeden Fall« verhindert werden. O-Ton Heusgen: »Das sagen alle. Das sagen auch diejenigen, die jetzt mit der Geiselbefreiung zu tun haben. Das sagt Katar, das sagt Ägypten. Die amerikanischen Präsidenten Biden und Obama haben aufgrund der Erfahrungen, die sie nach dem 11. September gemacht haben, mit US-Operationen und den Konsequenzen [daraus] geraten, dass Israel jetzt nicht aus Zorn und Hass überreagiert.«
Mit nur wenigen Sätzen, und ganz ohne Zutun Hayalis, hatte Heusgen den imaginären Zeigefinger ausgestreckt - in Richtung Israel. Vielleicht war es auch der Mittelfinger. In typisch deutscher Besserwissermanier schob er der Regierung in Jerusalem den Schwarzen Peter zu und suggerierte, dass Israel aus »Rachsucht oder Zorn heraus« den Gazastreifen bombardiere und nicht etwa, weil die eigenen Bürger zum x-ten Mal (und in einer noch nie zuvor dagewesenen Weise) Opfer von Terrorangriffen der Hamas geworden waren.
ERMAHNUNGEN Kein Wort verlor Heusgen dagegen zu der Frage, wie man die Geiseln tatsächlich aus den Klauen der Hamas befreien kann oder welche Rolle Deutschland dabei einnehmen könnte. Praktikable Vor- oder Ratschläge waren Fehlanzeige. Stattdessen gab er zu nächtlicher Stunde im deutschen Fernsehen eine kurze Einführung in das internationale Recht.
»Israel verletzt Völkerrecht mit seinem Siedlungsbau, aber wir haben keine entsprechenden Konsequenzen daraus gezogen. Wir fühlen uns der Sicherheit Israels als Deutschland verpflichtet, liefern Waffen und unterstützen Israel. Die Frage ist, ob es zur langfristigen Garantie der Sicherheit Israels nicht auch gehört, dass wir Israel ermahnen, internationales Recht einzuhalten«, sagte der MSC-Chef.
Ermahnungen an die Seite der Palästinenser oder Vorschläge, was Deutschland und Europa gegen die Hamas tun könnten, hatte Heusgen nicht im Angebot. Die Terroranschläge vom 7. Oktober hatte er zwar schon zuvor verurteilt. In der Sendung nannte er sie dann aber fast verniedlichend eine »Hamas-Aktion«.
Man muss Christoph Heusgen deswegen nicht gleich als »eingefleischten Feind Israels« bezeichnen, wie der Präsident der Deutsch-Israelischen Gesellschaft, Volker Beck, das in einer ersten Reaktion getan hat. Auch Heusgen meint es sicher gut, genauso wie António Guterres. Problematisch sind beider Aussagen dennoch. Als langjährige Diplomaten wissen beide um die Macht der Worte. Im Fall von Heusgen ist es nicht die erste Kontroverse dieser Art; er ist insofern Wiederholungstäter.
Wer aber als einzigen Vorschlag für die Entschärfung des aktuellen Konflikts zwischen einem demokratischen Staat und einer Terrormiliz nur »Mehr Druck machen auf Israel« als Lösung anzubieten hat, wer die Opfer eines Terrorangriffs in Mithaftung nimmt für die Verbrechen, der hat erstens nicht viel Wesentliches zu sagen und zweitens im Nahen Osten auch nicht viel zu melden. Zu Recht.
Denn eines sollte auch Guterres und Heusgen klar sein: Selbst der Sechstagekrieg von 1967 hat eine Vorgeschichte. Es ist der Jahrtausende alte, abgrundtiefe Hass auf Juden. Und den wird niemand besiegen, der nur Druck auf Israel ausübt.