In jeder israelischen Stadt gibt es eine Herzlstraße – und überall wird sie anders geschrieben: einmal Herzel, ein andermal Hertzel und dann wieder Hertzl. Diese orthografische Verwirrung verdeutlicht, wie nah und gleichzeitig wie weit weg Theodor Herzl im heutigen Israel ist. Präsent ist er überall – doch wer in Israel kennt ihn wirklich? Wer hat seine Werke gelesen oder sich mit seiner Biografie auseinandergesetzt?
Schimon Peres schrieb vor 20 Jahren ein interessantes Büchlein, in dem er darstellt, wie er mit einem plötzlich wiederauferstandenen Herzl durch Israel reist und dessen Vision vom Judenstaat mit der Realität vergleicht. Eingangs gestand Peres, der damals bereits über 70 war, dass er bisher nichts von Herzl gelesen hatte. Und so geht es sicherlich auch dem Durchschnitts-Israeli.
provokant Dabei würde es sich durchaus lohnen, einen Blick in jene Schrift zu werfen, die Herzl vor genau 120 Jahren verfasste und der er den damals provokanten Titel Der Judenstaat gab. So mancher israelische Politiker, der sich auf Herzl beruft, würde vielleicht auch heute noch etwas daraus lernen können. Zunächst einmal wäre er aber ein wenig überrascht.
Von einem »Staat Israel« ist bei Theodor Herzl nirgends die Rede. Herzl gab seinem Fantasieland den Namen »Siebenstundenland« und beschreibt ausführlich die Einführung des Siebenstundentags, ein für damalige Verhältnisse revolutionärer Vorschlag. Niemand sollte mehr als sieben Stunden am Tag arbeiten, wobei es zwei Schichten gibt, sodass ein Arbeitstag insgesamt 14 Stunden hat. Wie wichtig es Herzl damit war, zeigt sein Entwurf der zukünftigen Staatsflagge: »Ich denke mir eine weisse Fahne, mit sieben goldenen Sternen. Das weisse Feld bedeutet das neue, reine Leben; die Sterne sind die sieben goldenen Stunden unseres Arbeitstages.«
Dieses Detail zeigt Herzls Vision. Ihm ging es zum einen um die Rettung der Juden vor dem Antisemitismus, den er als Kind in Budapest, als Student in Wien und als Korrespondent der »Neuen Freien Presse« in Paris am Rande des Dreyfus-Prozesses erlebt hatte.
vergebens Im Judenstaat klagt er: »Vergebens sind wir treue und an manchen Orten sogar überschwängliche Patrioten, vergebens bringen wir dieselben Opfer an Gut und Blut wie unsere Mitbürger, vergebens bemühen wir uns den Ruhm unserer Vaterländer in Künsten und Wissenschaften, ihren Reichthum durch Handel und Verkehr zu erhöhen. In unseren Vaterländern, in denen wir ja auch schon seit Jahrhunderten wohnen, werden wir als Fremdlinge ausgeschrieen … Wenn man uns in Ruhe ließe … Aber ich glaube, man wird uns nicht in Ruhe lassen.«
Nachdem er die zunächst in Erwägung gezogene Massentaufe im Wiener Stephansdom verwirft, konstruiert er ein »Menschheitsexperiment«. Immer wieder spricht er vom »Musterstaat« und »Wunderland«. Wo dies sein sollte, war ihm 1896 nicht so wichtig: entweder in Palästina – oder in Argentinien, wo damals landwirtschaftliche jüdische Siedlungen für osteuropäische Juden eingerichtet wurden. Später stand er auch dem Uganda-Vorschlag der britischen Regierung offen gegenüber.
Welche Sprachen sollte man sprechen? »Jeder behält seine Sprache, welche die liebe Heimat seiner Gedanken ist.« Doch damit meinte er eigentlich nur die westlichen »Kultursprachen« wie Deutsch, Französisch und Englisch. Denn für ihn gehörten gerade die Sprachen, die die meisten Juden seiner Zeit sprachen, nämlich Jiddisch und Ladino, nicht dazu. Und Hebräisch? Dazu hatte er eine klare Meinung: »Wir können doch nicht Hebräisch miteinander reden. Wer von uns weiß genug Hebräisch, um in dieser Sprache ein Bahnbillet zu verlangen? Das gibt es nicht.«
ablehnend Viele seiner Vorstellungen ernten heute nur Kopfschütteln: Geprägt vom Bewusstsein der zivilisatorischen Überlegenheit Europas konnte Herzl sich einfach nicht vorstellen, wie die arabische Bevölkerung die Einwanderer ablehnen würde, die doch alle Errungenschaften der Moderne mit sich bringen und das Land aufbauen würden. Und in einem Land, in dem heute Religion und Armee unübersehbaren Einfluss haben, mutet es seltsam an zu erfahren, dass Herzl die Rabbiner in ihren Synagogen und die Soldaten (einer kleinen Berufsarmee) in ihren Kasernen belassen wollte. Sein Hauptaugenmerk aber galt weder religiösen noch politischen Fragen, sondern dem Aufbau der Wirtschaft des Landes.
Was Herzl heute zu Israel sagen würde, wissen wir nicht, denn lebte Herzl heute, so wäre er nicht mehr Herzl. Vieles im Judenstaat ist zeitgebunden, manches aber bis heute relevant. Am meisten wohl die Tatsache, dass er einen weltoffenen, liberalen, wirtschaftlich innovativen Staat im Auge hatte, der als ein »Licht unter den Völkern« gelten würde und den Antisemitismus in der ganzen Welt aus dem Weg geräumt hätte. Auch wenn manches davon bereits Realität ist – ein Stück Arbeit steht dem wirklichen »Judenstaat« noch bevor, um Herzls Ansprüchen zu genügen.
Der Autor ist Professor für jüdische Geschichte und Kultur. Zuletzt erschien von ihm »Israel: Traum und Wirklichkeit des jüdischen Staates«. C.H. Beck, München 2016