Das Gerede von den Koffern. Es ist immer da. Ganz normal. Nicht erst seit Netanjahu. Und auch nicht, weil Charlotte Knobloch unlängst gesagt haben soll, sie habe ihren Koffer jetzt ausgepackt. Gottejnu soll schützen! Nichts beschreien, hätte meine Großmutter ausgerufen.
Soweit ich auf Deutschland zurückblicken kann, war es nie anders. Da waren der Koffer und der Antisemitismus, und da waren wir. Immer geblieben und den Koffer im Blick. Nur, wenn es sein muss. Keine jüdische Hast. Den Koffer ergreifen und weg. Wann wird es sein müssen? Und wohin? Das kann man nicht wissen. Das wird sich zeigen. Wahrscheinlich Israel. In Israel lassen sich deutsche Juden gern begraben. Aber dort leben?
beschwörungen »Das wird sich ja wohl nicht wiederholen!« Dieser Satz hat mich bereits als Kind verfolgt. Es war keine Frage. Es war eine Beschwörung. Die Erwachsenen sprachen sie aus, wenn sie erkannten, dass etwas von dem, was sich nicht wiederholen würde, hochgekommen war.
Gesagt habe ich es nie. Dass ich Jüdin bin? Manchmal hätte ich es sagen wollen, wenn die anderen über Juden sprachen. Meine Mutter: »Wozu? Das wollen die Leute überhaupt nicht wissen.« Ich war bereit, öffentlich über mein Liebesleben zu sprechen. Aber nicht darüber. Wegen der anderen. Was bei denen dann innerlich ablaufen würde. Das stellte ich mir lebhaft vor.
»Nichts läuft da ab«, belehrte mich meine jüdische Freundin aus New York. Das war vor 30 Jahren. Sie besuchte mich in Westdeutschland. Sie lachte ihr breites, strahlendes Lachen. »Wo kann man denn hier essen gehen?« Ich wusste es auf einmal nicht mehr. Wir liefen durch die Straßen in meinem Stadtteil. Es war nicht mein Stadtteil. Ich wohnte hier bloß seit Jahren, und jetzt fand ich kein Restaurant, in dem wir zwei Jüdinnen hätten einigermaßen koscher essen gehen können.
Schuldgefühle Meine jüdische Freundin aus Amerika machte mir Schuldgefühle. »Oj, Viola, wie kannst du hier leben? Gibt es hier keine Juden?« Das Wort. Es fiel aus ihrem breit lachenden Mund. Sie sprach es aus. Juden. Ganz laut, sehr laut. Ich sah mich erschrocken um. Wegen der anderen. Vor 30 Jahren waren es die Deutschen nicht gewohnt, dieses Wort wieder zu hören.
Israel mochte man schon damals nicht. Nur sechs Tage lang. Im Sechstagekrieg 1967. Die Länder um Israel herum mochte man immer. Syrien, Libanon, Jordanien, Ägypten: Den schönen Urlaub bei den Pyramiden lassen sich deutsche Touristen sogar heute von faschistoidem Terror und ägyptischem Militärregime nicht vermiesen. Fährt man dagegen nach Israel, sagt man den Juden dort, dass es so mit Israel nicht weitergehen kann!
Als die Wiedervereinigung kam, verzog ich mich nach Israel. Ich wollte nicht einwandern. Mir ging die deutsche Seligkeit auf die Nerven. Ich schrieb von dort Reportagen für eine bekannte deutsche Wochenzeitung und für ein bekanntes feministisches Magazin. Bei meiner Rückkehr nach fast zwei Jahren stellte ich fest, die feministische Zeitschrift hatte nie etwas von mir gedruckt. Wieso nicht? Ich sei als Jüdin nicht objektiv, wurde mir beschieden.
drohungen »Jude! Jude! Feiges Schwein!« Man hat es auf deutschen Straßen von deutschen Mitbürgern länger nicht gehört. Nicht so laut. Und wahrscheinlich noch nie mehrsprachig: deutsch, arabisch und türkisch. Bereit liegt das ewig. Alles wie immer.
Nur eines ist anders. Wir sind älter geworden, wir Juden, die wir keine Überlebenden sind. Wir sind Nachgeborene. Wir sind die mit den jüdischen Wurzeln im deutschen Boden. Uns muss man nicht bewundern, uns muss man nicht mögen. Wir werden nicht heroisiert. Wir haben nichts überlebt.
Wie wird das Gedenken in Deutschland ohne Überlebende weitergehen? Auf Plakaten zu Veranstaltungen zum Novemberpogrom 1938 konnte ich es vergangenes Jahr lesen. Texte von toten Juden wurden von deutschen Schauspieler gelesen, die schon einmal Juden im Film gespielt hatten.
Schweigen Und was ist mit mir? Ich bin mit Überlebenden aufgewachsen. Zeitzeugen haben mich in die Welt gesetzt, mir das Laufen beigebracht, mich bewacht, mich aus dem Schlaf gerissen und mir eingeschärft, darüber zu schweigen, dass ich Jüdin bin.
Ja, aber, wird mir gesagt, das Publikum erwarte, »richtig Schlimmes zu hören, und da haben Sie, Frau Roggenkamp, ja nicht wirklich etwas zu erzählen«.
Unlängst, nach einer Lesung aus meinem Essay Erika Mann – eine jüdische Tochter kam eine sehr kleine und sehr alte Dame zu mir nach vorn. Sie sprach betont leise. Ich beugte mich zu ihr herunter. Es war etwas nur zwischen uns. Die anderen sahen uns zu und dachten sich nichts dabei. Mit dem Rücken zum Publikum schob sie ihren linken Blusenärmel hoch. Sie zeigte mir ihre Auschwitz-Nummer. Es rieche nach 1938, flüsterte sie und tippte sich lächelnd an die Nase.
ambivalenz Ich versuchte, ein Gesicht zu machen, das sich ihrem Ausdruck anglich. Sie war immerhin eine Überlebende. Dass sie lächelte, beunruhigte mich. Heimlich glaubte ich, es besser zu wissen. Denn das wird sich ja wohl nicht wiederholen. Sie wiegte ihren Kopf: »Denken Sie an meine Worte.« Wann? In welcher Situation würde ich das tun müssen?
Geschichte wiederholt sich nicht. Nicht so genau. Und wo will ich denn hin? Wo kann ich hin? So einfach ist das nicht. Wovon soll ich leben? Zahlt mir der deutsche Staat die nächsten 30 Jahre meine Rente, wenn ich Israelin geworden bin? Vielleicht werde ich dort 96 Jahre alt, wie die Cousine meiner Mutter. Im Kibbuz lebt man sehr gesund.
Wenn ich ginge, müsste ich allein gehen. Die Menschen, die mir viel bedeuten, nur wenige, sie werden in Deutschland bleiben. Sie wollen nicht nach Israel. Das Wetter ist dort viel besser als in Deutschland, viel mehr Sonne, gut gegen Rheuma und Depressionen. Geschenkt. Was sollen sie in Israel?
Fragen Wieso seid ihr nicht gegangen? Immer diese Frage an die Eltern. Rechtzeitig. Ab wann war rechtzeitig? Konnte man das so genau wissen? Und wieso nicht danach? Sofort nach der Befreiung? Bald danach. Irgendwann danach. Wieso nie? Nie gegangen. Verjagt schon, aussortiert, rausgeschmissen und zurückgekommen.
Januar 1953 in einer westdeutschen Großstadt. Es ist dunkel. Früher Abend. Eine hell erleuchtete Telefonzelle vorm Rathaus. Eine Frau steht darin und telefoniert. Auf dem Kopf ein grüner Filzhut mit brauner Feder. Sie spricht in den schwarzen Apparat und sieht dabei auf uns. Wir stehen draußen. Es regnet. Ich bin fünf Jahre alt, meine Schwester noch nicht neun. Meine Mutter hält ihren Schirm über uns. Ihre Einkaufstasche ist schwer.
Meine Mutter will ihren Mann anrufen. Er soll uns mit dem Auto abholen. Es gibt keine Taxis. Der Rathausmarkt ist wie leergefegt. Nur die Telefonzelle und die Frau da drinnen, und wir davor im eiskalten Januarregen.
Festessen »Was muss die denn jetzt so lange telefonieren?« Meine Mutter trippelt auf ihren hochhackigen Stiefeln hin und her. Ihre schwarzen Locken sind nass, sie fallen ihr ins Gesicht. Wir haben eingekauft. Heute ist ein besonderer Tag. Heute Abend soll es ein kleines Festessen geben mit Lachs und geräucherter Gänsebrust und Wein. Alles von Feinkosthändler Semmler.
»Ich mag ihn nicht«, sagt meine Schwester. Meine Mutter nickt. »Warum kaufst du bei Semmler?«, fragt meine Schwester. »Ich bin da früher schon einkaufen gegangen«, sagt meine Mutter, »schon als Kind. Da war es ein kleiner Krämerladen.« »Du hast uns erzählt, Semmlers waren Nazis.« »Ja«, sagt meine Mutter. »Nazis. Wo soll ich sonst einkaufen? Er hat gute Sachen. Bei ihm weiß ich wenigstens, was seine Eltern gemacht haben. Sie haben für den Gauleiter Delikatessen besorgt und hier ins Rathaus gebracht. Darum musste Semmler nicht an die Front.«
Die Frau telefoniert noch immer. Meine Mutter gibt meiner Schwester den Schirm und zieht mit beiden Händen an der Tür der Telefonzelle. Meine Mutter wiegt 49 Kilo. Mein Vater bringt seiner Frau jeden Abend eine Banane mit Schlagsahne ans Bett. Aber sie nimmt nicht zu. Auf den Tag genau vor zehn Jahren wurden sie von der Gestapo verhaftet. Dass sie überlebt haben, wollen wir heute Abend feiern.
Anlass Durch den Türspalt fällt die fremde Stimme auf uns: »Ich kann dir sagen! – Wie? – Ach, wo! Alfred hat überhaupt keinen ... Nein! Er hat gar keinen Anlass, sich da irgendetwas anhängen zu lassen. ... Das sagt er auch. Als hätten wir nicht schon genug –.«
»Entschuldigen Sie«, sagt meine Mutter, »dauert es noch länger?« Ihr Lippenstiftmund kräuselt sich gefährlich. »Ich stehe hier mit meinen beiden Töchtern im Regen und ...«. Weiter kommt sie nicht. Die Frau, sie ist groß und schwer, reißt die Tür von innen zu.
Meine Mutter wühlt in ihrer Handtasche. Puderdose, Lippenstift, Portemonnaie, Kopfschmerztabletten, Reisepass. Sie geht nie aus ohne Reisepass. Da sind die Zigaretten. Den Kopf schräg gelegt, die schwarzen Augen schmal: »Gib Mami mal Feuer.« Starke Böen peitschen den hart fallenden Regen über den Rathausmarkt. Meine Mutter pocht an die Scheibe der Telefonzelle. Die Frau droht uns mit ihrem schwarzen Knirps. Was sie ins Telefon sagt, können wir hören: »Die Juden können sich schon wieder alles erlauben.«
Telefonzelle Meine Mutter gibt meiner Schwester die Einkaufstasche. »Hier, halt mal.« Sie klappt ihren gelben Stockschirm zu. Sie stemmt die Tür zur Telefonzelle auf. »Lassen Sie wenigstens meine Töchter in die Zelle.« Wir sind eh schon klatschnass. Die Frau sagt: »jüdische Schlampe!«. Sie stößt mich beiseite. Ich falle aufs Pflaster. Meine Mutter schlägt mit ihrem Stockschirm der Frau über den Kopf. Das Tirolerhütchen liegt in der Pfütze neben mir.
Damals haben wir noch nicht gefragt. Das kam später. Weil meine Schwester und ich keine Freunde hatten. Weil meine Schwester und ich nicht eingeladen wurden. Weil meine Schwester keinen Mann finden konnte, dessen Eltern nicht Nazis gewesen waren. Damals gab es in Deutschland nur wenige Juden. Sie waren alt, oder sie waren dabei zu gehen.
Wieso seid ihr nicht gegangen? Heute würde ich die Frage nicht mehr stellen. Gehe ich?
Viola Roggenkamp, 1948 in Hamburg geboren, hat sich in ihren Romanen und Sachbüchern (zuletzt »Tochter und Vater«, S. Fischer 2011) immer wieder mit jüdischem Leben im Nach-Schoa-Deutschland auseinandergesetzt.